Loretta Chase
vertrauen, würde ich ihn niemals mit einer so heiklen Aufgabe
betraut haben.«
Mrs.
Wingate schnaubte leise, setzte sich noch aufrechter hin und faltete die Hände
im Schoß. »Sie mögen mir verzeihen, dass ich Ihr Urteil infrage gestellt
habe«, sagte sie. »Was kümmert es mich, wenn Sie sich täuschen? Ich bin
schließlich nicht für den Erben und einzigen Nachkommen des Marquess of
Atherton verantwortlich. Mich wird niemand von meinem erhabenen Sockel stoßen,
wenn die Welt erfährt, dass ich meinem Neffen nicht nur erlaubt habe, mit ganz
ungeheuerlichen Leuten Umgang zu pflegen, sondern ihn gar dazu ermutigt habe.
Mich soll es nicht ...«
»Ich wünschte, Sie hätten schon einmal von dem
schönen Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist Gold gehört«,
unterbrach er sie.
»Ich bin
kein Politiker«, erwiderte sie. »Ich bin es gewohnt zu sagen, was ich
denke.«
»Man sollte meinen, dass Ihr Verstand vollauf mit der Sorge um
Ihre Tochter befasst ist.«
»Ich
bezweifle, dass Olivia zu Schaden kommen wird«, beschied ihre Mama. »Ich
wünschte nur, dasselbe von jenen behaupten zu können, die ihren Weg
kreuzen.«
Kapitel 7
Obwohl die Karriole doch viel zu vornehm
war, als dass man mit ihr kein Aufsehen erregt hätte, musste Bathsheba
einräumen, dass sie durchaus gewisse Vorteile bot, wie beispielsweise
Schnelligkeit und Wendigkeit.
Noch ehe
die Kirchglocken sechs Uhr schlugen, hatten sie Hyde Park Corner erreicht.
Wenngleich nicht ganz so belebt wie tagsüber, lag der Platz doch keineswegs
verlassen da. Der Wasserträger schleppte noch immer Eimer zu den Wagen hinüber,
die am Droschkenstand aufgereiht warteten. Unter einer Straßenlaterne
plauderten einige Soldaten miteinander. Eine Milchfrau trug ihre leeren Kannen
zurück gen Knightsbridge. Der Wächter an der Mautschranke würde wohl die ganze
Nacht hindurch Dienst tun.
Gewiss
würde der eine oder andere bereits am Nachmittag hier gewesen sein. Sollte
Olivia tatsächlich von Hyde Park Corner aufgebrochen sein, würden manche von
ihnen sie sicherlich bemerkt haben, da Olivia meist nicht unbemerkt blieb.
Weshalb
Bathsheba beschloss auszusteigen, dieweil Rathbourne langsam weiterfuhr, wozu
er sich zuvor bereit erklärt hatte – wenngleich erst nach einer kurzen,
heftigen Auseinandersetzung, und auch dann nur unter Zähneknirschen. Ein Stück
die Straße hinunter, gegenüber der Stallungen, wollte er auf sie warten. Als
Erstes sprach sie mit dem Wasserträger. Er erinnerte sich sogleich an Olivia.
Und nicht nur er. Wie kaum anders zu erwarten, hatte sie ordentlich für Aufruhr
gesorgt. Wenig später kletterte Bathsheba wieder in die Karriole. »Und?«,
fragte Rathbourne. »Nat Diggerby, der sogenannte Knappe meiner Tochter, ist wegen
Anstiftung zum Unfrieden dem Friedensrichter vorgeführt worden«,
berichtete sie. »Olivia hat ihn in echter DeLucey-Manier treulos fallen lassen
und sich einen anderen Dummen gesucht. Eine Pastetenverkäuferin hat
mitbekommen, wie meine Tochter einem jungen Bauern eine herzergreifende
Geschichte von ihrer siechen Mutter erzählt hat.«
Sie
beschrieb die nachfolgende Szene und fügte hinzu: »Lord Lisle scheint
tatsächlich eine ritterliche Veranlagung haben. Olivia hätte sich auch – ohne
noch einen Gedanken an ihn zu verschwenden – allein auf den Weg gemacht. Jemand
muss dem Jungen eine ordentliche Portion Pflichtgefühl eingetrichtert
haben.«
Sie
vermutete stark, dass dieser Jemand Rathbourne war. Trotz des beiläufigen Tons,
in dem er stets von dem Jungen sprach, hatte sie vom ersten Moment an eine
innige Zuneigung zwischen den beiden gespürt. Sein Zorn darüber, wie Lord
Atherton mit Lisle umzuspringen pflegte, hatte ihr zudem gezeigt, wie wichtig
Rathbourne sein Neffe war. Olivias Wahnsinnstat könnte diese Beziehung auf die
Probe stellen.
Typisch,
dachte Bathsheba finster. Wann immer einer der Ungeheuerlichen DeLuceys die
Bühne betrat, veränderte sich das Leben aller Beteiligten. Und selten zum
Besseren.
»Obwohl es
seine Eltern noch nicht bemerkt haben, ist Peregrine doch sehr reif für sein
Alter«, meinte Rathbourne, als er die Pferde antraben ließ. »Undenkbar,
dass er ein zwölfjähriges Mädchen schutzlos und allein reisen ließe.«
»Den
unteren Schichten gilt eine Zwölfjährige in jeder Hinsicht als
Erwachsene«, sagte Bathsheba. »Olivia hat kein behütetes Leben geführt.
Außerdem hat sie das Talent der DeLuceys geerbt, sich durch Lügen und Betrügen
aus jeder noch so
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