Loretta Chase
keineswegs
verbannt fühlte, sondern seiner wahren Bestimmung gefolgt war. Seine
Bemerkungen über das Vergraben des Schatzes ließen ihn zudem mehr wie einen
Ungeheuerlichen DeLucey klingen als seine Witwe, selbst wenn die tatsächlich
eine solche war. Die Neugier hatte ihn gepackt, und Benedict wollte mehr
wissen. Behutsam begann er, sie auszufragen.
Er war sehr
gut darin, andere auszufragen, ihnen Informationen zu entlocken und sie zu
unbedachten Äußerungen zu verleiten. Aber ein solches Vorgehen diente
ausschließlich politischen Zwecken. Es war gerechtfertigt, wenn sich dadurch
lohnende Anliegen fördern oder politische Gegner vernichten ließen. Im privaten
Gespräch derart zu verfahren war verwerflich.
Im
Privatleben anderer herumzuschnüffeln ist der favorisierte Zeitvertreib eines
beschränkten Verstandes.
Und gewiss
fiele es ihm erst recht nicht ein, Einblicke in sein Privatleben zu gewähren.
Das Problem war nur, dass ihre Nähe ein Quell stetiger Zerstreuung und
Irritation war, und so traten die Worte über seine Lippen, noch ehe sein
zerstreuter und irritierter Verstand sie einer kritischen Prüfung hatte
unterziehen können. Nur so ließ sich erklären, dass er, kurz nachdem sie
Kensington House passiert hatten und aufgrund der vielen Fahrzeugen dort zum
Stehen kamen, sagte: »Ich bin zutiefst schockiert. Bislang dachte ich, dass
Kindermädchen einen zu Bett bringen und einem Gutenachtgeschichten erzählen.
Väter hingegen wollen von einem wissen, warum man seinen kleinen Bruder am
Bettpfosten festgebunden und ihm die Haare mit einem Taschenmesser gestutzt
hat.«
Kaum waren
die Worte gesprochen, wünschte er sie auch schon zurück. Doch blieb ihm keine
Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Eine Lücke tat sich in der langen
Kolonne der Wagen vor ihnen auf, und rasch lenkte er die Karriole hindurch.
Obwohl er ganz auf das kleine Manöver konzentriert war, spürte er doch, wie sie
sich ihm zuwandte. Er war sich ihres Blickes ebenso bewusst, als wäre es ihre
Hand, die auf seinem Gesicht ruhte, ... und er wusste, dass ihr keines seiner
Worte entgangen war.
»Warum
haben Sie das getan?«, wollte sie wissen.
»Wir haben
gespielt, dass wir in den amerikanischen Kolonien wären«, begann er zu
erzählen und mühte sich um einen Ton abgeklärter Belustigung. »Ich war der
Indianerhäuptling.« Er war immer der Indianerhäuptling gewesen, weil er
dunkle Haare und dunkle Augen hatte und überhaupt so finster aussah. »Geoffrey
war mein englischer Gefangener, und ich habe ihn skalpiert, das alte
Bleichgesicht.«
Sie lachte,
und der tiefe, durchtriebene Klang ihres Lachens, das ihm noch immer so
unvergesslich war, hätte ihm fast ein Lächeln entlockt.
»Ein
perfektes Kind waren Sie also nicht«, stellte sie fest.
»Ganz und
gar nicht«, sagte er. Wie er Geoffreys goldene Locken, die hellen Augen und das engelsgleiche
Gesicht gehasst hatte! »Alistair hätte ich auch skalpiert, wenn ich ihn nur
erwischt hätte. Aber er befand sich in der sicheren Obhut eines
Kindermädchens.«
Sie
erwiderte nichts. Er hätte auch nichts weiter sagen müssen, doch: »Die
Kindermädchen nannten meine Brüder ,ihre kleinen goldenen Engel'«, fuhr er
fort. »Sie waren alles andere als Engel, aber sie sahen so aus. Ein großer
Vorteil für sie.«
»Vielleicht hätten Sie die Kindermädchen gleich mit
skalpieren sollen«, meinte sie. »Wegen ihrer Dummheit.«
»Ich war ja
noch ein Kind, nicht älter als acht oder neun«, sagte er. »Geoffrey und
Alistair waren blond – ich nicht. Wenn sie kleine goldene Engel waren, was war
dann ich, wenn nicht der finstere Bösewicht?«
»Ja, was
hätten Sie da sonst tun sollen?«, sagte sie mitfühlend. »Ich an Ihrer
Stelle hätte genau dasselbe getan.«
Überrascht
sah er sie an. »Nein, hätten Sie nicht.«
»Weil ich
kein Junge bin?«, fragte sie mit gehobenen Brauen.
»Mädchen
tun so etwas nicht.«
»Wie wenig
Sie doch über das weibliche Geschlecht wissen«, meinte sie. »Alle Kinder
sind kleine Wilde, sogar – oder gerade – Mädchen.«
»Nicht alle
Kinder«, stellte er klar. »Zumindest nicht lange. Und schon gar nicht,
wenn man der Älteste ist. Sowie jüngere Geschwister dazukommen, trägt man
Verantwortung. Dann kann man kaum noch Kind sein. ,Du musst dich um deinen
Bruder kümmern, Benedict', heißt es dann. ,Er ist doch noch so klein.' Oder:
,Du solltest es wirklich besser wissen, Benedict', sagen sie einem.
.Schließlich bist du der Älteste.'«
»Hat
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