Loretta Chase
»Bitte verzeihen Sie mir.«
»Kein
Grund, sentimental zu werden«, sagte er. »Ada ist schon seit zwei Jahren
tot, und sie ... und sie ...« Er stieß einen verärgerten Seufzer aus. »Na
schön. Sie war wie eine Fremde für mich. Da haben Sie es. Ist Ihr zartfühlendes
Herz nun beruhigt?«
Bathsheba wünschte, sie hätte heute Abend
nicht die Tür aufgemacht. Rathbourne erwies sich als noch problematischer als
befürchtet. Die körperliche Nähe hätte sie wohl noch mit einer gewissen Fassung
ertragen können. Die geistige Nähe hingegen brachte ihre Abwehr ernstlich in
Gefahr.
»Nein, das
beruhigt mich überhaupt nicht, denn Sie reden Unsinn«, meinte sie nun.
»Wie lange waren Sie verheiratet?«
»Sechs
Jahre«, sagte er.
»Dann kann
Ihre Frau Ihnen kaum eine Fremde gewesen sein.« Sie blieb stehen. »Ich
bestehe darauf, dass Sie zur Kutsche zurückkehren. Sie lenken zuviel
Aufmerksamkeit auf uns.«
Er schaute
sich um. »So weit ich das überblicke, sind unsere Zuschauer allesamt
Männer«, stellte er fest, »und sie schauen nicht mich an.«
»Ich bin
für sie nur ein hübsches Objekt«, klärte sie ihn auf. »Wenn sie mich
anschauen, ist ihr Gehirn außer Gefecht. Möchten Sie etwa, dass sie zu denken
anfangen und sich fragen, wer wohl dieser feine Aristokrat ist, der sich mit
finsterem Blick an meine Fersen geheftet hat?«
Worauf er
sie noch ausgiebiger mit seinem finsteren Blick bedachte, sich dann knapp
verbeugte, umwandte und zurück zur Kutsche schritt.
Seine
Taschenuhr in der Hand, wartete er neben dem Wagen auf sie, als sie wenige
Minuten später zurückkehrte.
»Und?«,
fragte er.
»Wir fahren
noch in die richtige Richtung«, sagte sie. Rasch kletterte sie in den
Wagen, bevor Rathbourne sie wieder in mittelalterlicher Manier packen und in
das Gefährt verfrachten konnte. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, auf
so anmaßende Art gehandhabt zu werden. Nein, es sorgte sie viel mehr, dass es
ihr so gut gefiel: die Leichtigkeit, mit der er sie hochgehoben hatte, die
Kraft und die Wärme, die er ausstrahlte, und – das vor allem – seine Hände auf
sich zu spüren. Viel zu gefährlich. Tatsächlich hatte sie noch nicht mal die
Erinnerung an jenen Kuss aus ihrem Gedächtnis verbannen können. Und das war
Wochen her! Zu gut erinnerte sie sich noch an das Gefühl seiner Hände auf ihrem
Nacken und daran, was diese
simple Berührung mit ihr angestellt hatte, wie ihr Wille, ihre Moral und ihre
Muskeln sich alle zugleich in nichts aufgelöst hatten.
Der Gedanke
genügte ihr, so weit wie möglich auf ihre Seite des Wagens zu rutschen, ohne
dass es allzu offensichtlich war. Erneut machten sie sich auf den Weg. Diesmal
kamen sie zügiger voran, denn die Straße war nicht mehr so stark befahren wie
zuvor. Während er sich aufs Fahren konzentrierte, berichtete sie ihm, was sie
von dem Zollwärter erfahren hatte.
Wie sich
herausstellte, kannte er besagten Bauern. Er heiße Jarvis und fahre regelmäßig
die Strecke von Brentford nach London und zurück. Wenngleich der Zollwärter
nicht ganz genau zu sagen wusste, wann Jarvis heute die Mautschranke passiert
habe, so vermute er doch, dass es keine ein, zwei Stunden her sei. Vage
erinnere er sich, auch Kinder auf seinem Karren gesehen zu haben, aber denen
hatte er nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jarvis brachte öfter mal seine
Kinder oder die der Nachbarn mit in die Stadt.
»Wenn dem
so ist, brauchen wir unterwegs eigentlich keinen Halt mehr einzulegen, sondern
können gleich bis Brentford durchfahren«, sagte Rathbourne. »Und sollte
die Straße die ganze Zeit so wunderbar frei von Viehtreibern, Fuhrwerken und
Pferdekarren bleiben, könnten wir gegen acht Uhr da sein, womit wir gute
Aussichten haben, die beiden ausfindig zu machen, ehe sie eine neue
Fahrgelegenheit aufgetrieben haben – was sich in einem Weiler wie Brentford
ohnehin als weitaus schwieriger erweisen dürfte als am stark frequentierten
Hyde Park Corner. Falls es meinem Neffen nicht mittlerweile gelungen ist, Ihre
Tochter zur Umkehr zu bewegen, so wird er sich zumindest bewusst sein, dass ich
ihn suche und bald eingeholt haben werde. Aus diesem Grund dürfte er gewiss
seinen findigen Verstand einsetzen und sich etwas einfallen lassen, um das
Tempo etwas zu drosseln.«
»Das klingt
vernünftig«, fand sie. »Nur leider ist Olivia nicht vernünftig.«
»Sie ist
zwölf«, gab Rathbourne zu bedenken. »Sie hat kein Geld, und ihr
Reisegefährte ist mit ihrem Vorhaben nicht
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