Loretta Chase
bekommen. Der Kopf stammte von dem Schurken, der angeblich
meinen Bruder Rupert ermordet haben sollte. Wie sich jedoch herausstellte – und
wie kaum anders zu erwarten gewesen war –, hatte Rupert auch diesmal mehr Glück
als Verstand gehabt. Nicht lange nach der Zustellung des Schurkenkopfes tauchte
Rupert quicklebendig wieder auf.«
»Welch
seltsame Dinge sich in Ihrer Familie zutragen«, sinnierte sie. »Rupert
hatten Sie gar nicht erwähnt, als Sie davon erzählten, wie Sie Ihre Brüder zu
skalpieren versuchten. War er auch ein goldener Engel?«
»Großer
Gott, nein, Rupert doch nicht«, erwiderte er. »Von Weitem kann man uns
kaum auseinanderhalten, heißt es.«
Ehe sie
noch weitere Fragen stellen konnte, fuhr er auch schon fort: »Um aber auf
besagten Thomas Cole zurückzukommen: Nun endlich nahm man das Ostrich näher
unter die Lupe. Wie sich herausstellte, war in einem der Zimmer das Bett an
einer Falltür festgemacht, die sich direkt über einem großen Kessel öffnete.
Löste man die Verriegelung der Falltür, kippte das Bett zur Seite, und der
Schläfer rutschte geradewegs in den Kessel.«
»Man hat
ihn gekocht?«, fragte sie ungläubig. »Bei lebendigem Leib?«
»Ja«,
bestätigte Rathbourne ernst. »Ich könnte mir vorstellen, dass der Wirt und
seine werte Frau dafür Sorge trugen, dass der Gast sehr betrunken zu Bett ging,
damit er nicht mehr in der Lage wäre, sich in Sicherheit zu bringen – oder auch
nur einen Schrei auszustoßen.«
»Mir fehlen
die Worte«, meinte sie.
»Menschen
sind unaussprechlicher Dinge fähig«, sagte er. »Und sie tun diese Dinge
meist aus den aberwitzigsten Gründen. Oder ganz ohne Grund. In diesem Fall
jedoch trug die Gerechtigkeit den Sieg davon. Jarman, der Wirt, und seine Frau
wurden verhaftet, schuldig gesprochen und gehängt, gestreckt und gevierteilt.
Seitdem wurde der Ort Thomas-Cole-in-the-Brook genannt, woraus dann im Laufe
der Jahre Colnbrook geworden ist.«
Mittlerweile
hatten sie die Brücke überquert und fuhren Colnbrooks schmale Hauptstraße
entlang. Sie passierten Gasthäuser mit den üblichen, vertrauten Namen: das
White Hart und das George, die beide ruhig und friedlich dalagen. Etwas weiter
die Straße hinab befand sich das berüchtigte Ostrich, in dessen Fenstern noch
Licht war. Trunkenes Gelächter drang hinaus in die Nacht.
Die
Karriole rollte gerade auf den Eingang zu, als die Tür aufgerissen wurde und
drei Männer heraustorkelten. Einer stolperte den Pferden fast vor die Hufe und
landete mit dem Gesicht voraus im Dreck. Geistesgegenwärtig brachte Rathbourne
den Wagen zum Stehen, nur ein paar Fuß von dem reglos daliegenden Mann
entfernt. »He, du! Pass doch auf, wo du hinfährst!«, brüllte einer der
beiden anderen und stürzte sich auf seinen zu Boden gegangenen Freund. »Verdammter
Mist! Du hättest ihn umbringen können, du verfluchter Schafskopf!«
Der dritte
im Bunde torkelte vor die Pferde und packte eines beim Zaum. »Schon gut«,
lallte er. »Die geh'n heut nirgen'wo mehr hin.«
»Ich bin
durchaus in der Lage, die Pferde allein im Zaum zu halten«, sagte
Rathbourne gefasst. »Sie täten besser daran, Ihren Freund aus dem Weg zu
schaffen.«
Der Mann
zeigte sich unbeeindruckt und forderte Rathbourne herzhaft dazu auf, etwas
anatomisch Unmögliches zu tun.
Der zweite
Mann hingegen machte sich nützlich, indem er seinen Freund, der nur halb bei
Bewusstsein war, hochhievte und ihn auf die Bank vor dem Gasthof zerrte.
Derweil hängte sich der dritte, dem die wachsende Unruhe der Pferde offenbar
nicht auffiel, kräftig ins Zaumzeug und stellte dabei allerlei Mutmaßungen über
Rathbournes körperliche Unzulänglichkeiten an, seine Vorliebe für kleine Jungen
und fette Schafe sowie die haarsträubende Zahl hässlicher, deformierter Männer,
die seiner Mutter einst Anlass gegeben hatten zu glauben, sie könnten allesamt
seine Väter sein.
Rathbourne
widerstand der Provokation und blieb ganz der unerschütterliche Aristokrat.
»Kann es etwas Abstoßenderes geben als den Anblick eines Betrunkenen um ein Uhr
morgens?«, fragte er, höchst gelangweilt an Bathsheba gewandt. »Oder eines
Geschöpfes, das sich so wenig Verstandes erfreut?«
Etwas
lauter fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Sir. Nun, da Ihr
Freund in Sicherheit ist, wäre es da für Sie und Ihren anderen Freund nicht
weitaus angenehmer, sich zu ihm zu gesellen? Während Sie sich auf der Bank ein
erholsames Nickerchen gönnen, werden wir Sie nicht
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