Loretta Chase
trügerisch gewesen war.
Ihr blieb
wenig Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob sie sich wohl mit in die
Prügelei stürzen würden, und wenn ja, auf wessen Seite sie wären. Jemand
versuchte, sie aus dem Gemenge herauszuzerren. Sie riss sich los, ballte die
Hand zur Faust und hieb sie ihrem vermeintlichen Retter auf die Nase, dass es
nur so knirschte. Er taumelte zurück und hielt sich die geschundene Nase. Doch
schon warb ein anderer um ihre Aufmerksamkeit, und sie stürzte sich erneut ins
Getümmel. Aus den Augenwinkeln nahm sie Rathbourne wahr, der mal dem einen, mal
dem anderen einen Schlag verpasste, so rasch, dass die Bewegungen kaum mehr
voneinander zu unterscheiden waren. Zwei oder drei Männer sah sie auch in
Fenster fliegen und gegen Wände prallen, sie hörte das Klirren und Scheppern
berstenden Glases. Etliche Männer lagen reglos am Boden, andere torkelten in
Laternenpfähle. Im Dunkel konnte sie ausmachen, wie
Thomas einen Mann von der Kutsche wegzerrte.
Plötzlich
fingen die Pferde an zu steigen, und die grölende Meute verstummte und begann
Platz zu machen. Sie sah die Karriole langsam anfahren – obwohl niemand
drinsaß, sie zu lenken –, und die Männer aus den Schenken sich zusammenrotten
und geschlossen auf sie zukommen. Sie durfte nicht zulassen, dass sie
Rathbourne überwältigten.
Sie schlug
sich wacker und hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte. Wahrscheinlich
nur wenige Minuten, wenngleich es ihr vorgekommen war, als wäre sie tagelang im
Krieg gewesen.
Plötzlich
erhob sich über dem Aufruhr eine deutlich zu vernehmende Stimme: »Im Namen
Seiner Majestät befehle ich euch, auseinanderzugehen und Ruhe zu wahren,
dieweil ich folgenden Aufruf ergehen lasse.«
Zweimal
wurde der Befehl wiederholt, dann senkte sich Schweigen über die Menge. Die
Stimme fuhr fort: »Unter Androhung der im ersten Jahre Georges I. erlassenen
Verfügungen zur Unterbindung lärmender und den Frieden gefährdender
Zusammenkünfte, befiehlt Seine Majestät, der König, allen hier versammelten
Personen, sich unverzüglich zu zerstreuen und friedlich zurück an ihre
respektiven Wohnstätten
oder ihre rechtschaffene Arbeit zu begeben. Gott schütze den König.« Die
Menge begann sich zu lichten, die Männer zogen sich leise murrend zurück. Die
zuletzt Gekommenen verschwanden als Erste. Ihnen folgte, wer aus dem Ostrich
gekommen war und sich noch auf den Beinen halten konnte. Manche humpelten.
Bathsheba sah zu Rathbourne hinüber, der plötzlich ganz allein dastand. Sein
Rock war zerrissen, Krawattentuch und Hut waren verschwunden. Zerzaust stand
ihm das Haar zu Berge, feuchte Locken hingen ihm in die Stirn. Sein Gesicht war
so verschmutzt, dass sie nicht zu sagen vermochte, ob sich unter dem Dreck
ernste Wunden verbargen. Als sein Blick dem ihren begegnete, lachte er kurz auf
und schüttelte den Kopf.
Ohne
nachzudenken, ging sie zu ihm, folgte nur ihrem Instinkt. Sie streckte die Hand
nach ihm aus und berührte zärtlich seine Wange. »Sind Sie verletzt?«,
fragte sie. Wieder lachte er kurz, nahm dann ihre Hand und hielt sie an seiner
Wange fest. »Ob ich verletzt bin, will sie wissen«, sagte er. »Sie
verrücktes Geschöpf. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«
»Ich habe
überhaupt nicht gedacht«, erwiderte sie. »Die haben Sie zusammengeschlagen
... Das war nicht fair. Ich war wütend.«
Er ließ
ihre Hand los und strich ihr das Haar aus der Stirn.
Wenn sie
zuvor nicht nachgedacht hatte, so unterließ sie es auch jetzt. Stattdessen
neigte sie einfach den Kopf und ließ ihn an seiner Brust ruhen.
»Ich hatte
Angst, dass man Ihnen etwas antun könnte«, sagte sie leise.
»Und was
ist mit Ihnen, Madam?«, fragte er. »Hatten Sie keine Angst, dass man auch
Ihnen etwas antun könnte?«
»Daran habe
ich gar nicht gedacht«, sagte sie. »Es war mir egal.«
Sie spürte
seine Hand auf ihrem Nacken. Sie spürte, wie seine Brust sich unter ihrer Wange
hob und senkte. Sie spürte ihr Herz noch immer wie verrückt schlagen, spürte
das Brennen ihrer Lunge und ihren Atem, der rasch und stoßweise kam. Dann hörte
sie seine Stimme, sehr leise und sehr tief, in ihrem Haar. »Ich glaube, der
Konstabier naht – jener, welcher den Riot Act so bewegend verlesen hat. Machen
Sie sich bereit zu lügen, was das Zeug hält.«
Kapitel 9
Die
Menge tauchte ab in
die Nacht – zumindest jene Männer, die sich rühren konnten. Die drei
ursprünglichen Aufrührer lagen noch immer mehr oder minder dort, wo
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