Lorettas letzter Vorhang
bedenkt» oder «auf keinen Fall». Zwei Männer standen auf der Bühne: Der eine war Löwen, sein weinroter Rock war staubig, und am linken Ärmel drang durch einen langen Riß das silbrige Futter durch den Stoff. Der andere, ein kleiner, dicker Mann im dunkelblauen, nicht minder staubigen Uniformrock der Wedde, stand vor ihm, den Kopf zur Seite geneigt. Seinrundes Gesicht zeigte den üblichen bedauernden Ausdruck, und wer ihn nicht kannte, hätte dahinter nie die Wachsamkeit und Beharrlichkeit vermutet, die ihn zu einem der besten Weddemeister der Stadt machte.
«Leider», sagte er nun wieder, «leider muß ich darauf bestehen. Der Baumeister wird in einer Stunde hier sein und Eure Bühne mit dem Auge des Fachmanns untersuchen. Ich kann nicht versprechen, daß Ihr heute abend die angekündigte Komödie geben dürft.»
«Aber das ist Unsinn. Wir dulden in diesem Haus nicht die kleinste Nachlässigkeit. Ich habe Euch doch gerade überall herumgeführt und gezeigt, daß wir die ganze Maschinerie mit neuen Seilen versehen haben. Die Vorstellung konnte gestern deshalb erst eine Stunde später anfangen, und ich kann Euch versichern, daß unser Publikum darüber sehr empört war. Was sollen wir heute abend tun? Die Leute gar nicht erst hereinlassen und nach Hause schicken? Wer ersetzt mir den Ausfall?»
Weddemeister Wagner nickte geduldig, als habe er ein eigensinniges Kind vor sich. «Gewiß. Wie ich Euch schon mehrfach versichert habe, verstehe ich Euer Problem. Aber leider, es gab Hinweise, daß Eure Maschinerie nicht sicher ist …»
«Aber das ist ganz unmöglich. Die letzte Prüfung ist erst wenige Monate her.»
«Das mag sein, aber Sicherheit ist der Baudeputation das oberste Gebot. Ihr werdet doch nicht wollen, daß es während der Vorstellung einen Unfall gibt? Oder daß der große Kronleuchter Eurem Publikum auf die Köpfe fällt?»
«Von wem kamen denn diese Hinweise?»
Loretta und Rosina waren, von den beiden Männern unbemerkt, auf die Bühne gestiegen, und Loretta, bis vor einer Minute noch vergnügt wie ein Pirol im Frühling,blickte den Weddemeister an, als habe er ihr eine ganze Flasche Wasser aus Köln gestohlen.
«Das tut nichts zur Sache, Mademoiselle, es ist, nun ja, gemeldet worden.»
«Aber es ist nie etwas passiert», rief Löwen. «Ein Theater ist nun mal kein Salon. Hier gibt es Apparaturen, Seile, Winden, Versenkungen. Doch wie Ihr Euch selbst überzeugen konntet, haben wir keine Probleme. Wir haben sogar erst vor zwei Wochen einen Gehilfen unseres Maschinenmeisters entlassen, nur weil er bei einer Probe die Seilzüge falsch bedient hat. Nicht weil dabei etwas passiert
ist
, sondern allein, weil etwas hätte geschehen
können
. So wichtig ist
uns
die Sicherheit, schließlich sind es zuallererst unsere eigenen Köpfe, auf die etwas fallen …»
«Leider …» Auch Wagners Geduld war nicht unerschöpflich. Er blickte Löwen nun streng und äußerst amtlich an. «Wie ich schon sagte, der Baumeister wird bald hier sein, und Ihr werdet ihm Zugang zu allen Räumen und Böden gewähren. Sonst muß ich Euer Theater schließen, und zwar gleich jetzt. Guten Morgen, Mademoiselle Rosina», er hatte sie hinter Loretta im dämmerigen Licht entdeckt und neigte grüßend den Kopf, als sei Löwen plötzlich gar nicht mehr da. «Man sieht Euch nie auf der Bühne, ich hoffe, es geht Euch trotzdem gut.»
Löwen brauchte einen Moment, bis er begriff, daß der Weddemeister eine seiner Schauspielerinnen begrüßte wie eine alte Freundin. Aber da hatte Wagner sich ihm schon wieder zugewandt und bat, ihn nun endlich ins Direktionsbureau zu führen, damit man einen Plan für die Untersuchung aufstellen könne. Die beiden Männer verschwanden. Löwen voraus in großen Schritten, Wagner hinter ihm in kleinen, aber um so eiligeren.
Rosina sah Loretta an und lachte laut. «Du siehst aus,als sei da wieder einer, der dir eine Rolle stehlen wolle. Wagner sitzt zwar oft auf der Galerie, aber zur Bühne drängt ihn nichts, wirklich gar nichts. Warum bist du so böse auf ihn?»
«Weil er das Theater schließen will natürlich, gerade einen Tag bevor ich endlich meine große Rolle spiele. Aber wieso, um Himmels willen, kennst du jemanden von der Wedde?»
Rosina zuckte die Achseln. «Das ist kein Geheimnis, die ganze Stadt weiß es. Außer dir. Im letzten Jahr habe ich ihm geholfen, ein Problem zu lösen. Sieh mich nicht so mißtrauisch an, ich bin keine Spionin fürs Rathaus, es hatte sich nur so ergeben.
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