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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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ist, als hätten die Worte mir die ganze Zeit auf der Zunge gelegen und nur auf die Gelegenheit gewartet, herauszuplatzen.
    Sean wird rot. »Soll ich mich jetzt entschuldigen, dass ich mich nicht wie ein Kavalier verhalten habe?«
    Ich lache erstickt. »Ich war nur überrascht.«
    Sean sieht mich an und sein Gesichtsausdruck verändert sich. Er wirkt traurig, als sehe er hilflos eine Welle näher kommen, die gleich über uns zusammenbrechen wird.
    »Ich hätte es nicht tun sollen.«
    »Wir haben schon so viele Gesetze gebrochen. Was zählt da eins mehr?«
    Er schüttelt den Kopf. »Jetzt ist es anders. Die Gefühle, die wir hatten, waren verboten, das wussten wir ja immer. Aber solange es nur Gefühle waren, die wir verdrängt haben, waren wir sicher. Man konnte uns nicht für etwas bestrafen, was wir nicht getan hatten. Erinnerst du dich an die Nacht damals in deinem Zimmer, vor einer Ewigkeit? Glaubst du, ich wollte dich damals nicht küssen? Aber ich habe es nicht getan. Jetzt dagegen schon. Jetzt haben wir das Gesetz wirklich gebrochen.«
    Ich kann dagegen nichts einwenden, er hat Recht.
    »Wenn wir erwischt werden«, sagt er, »könnte das den Ausschlag geben, ob man dir verzeiht oder dich bestraft. Die Meister brauchen jedenfalls keinen weiteren Anlass, um dich zu töten.«
    » Willst du mich küssen?«
    Er nickt. Ich beuge mich zu ihm vor und küsse ihn. Ich sehne mich danach.
    »Nicht«, sagt er und zieht mich an sich. »Es ist verboten. Das ist das letzte«, er küsst mich auf den Nacken, »das allerletzte Mal.«
    Aber als er mich dann endlich von sich wegschiebt, ist geradezu unanständig viel Zeit vergangen und mein ganzer Kopf glüht bis unter die Haarwurzeln.
    Irgendwo tief in mir, tiefer als Lunge, Magen oder Herz, tut etwas weh. Die Welt, die ich kannte, hat sich aufgelöst. Ich habe Sean geküsst und er hat mich geküsst. In den vergangenen beiden Tagen habe ich sämtliche Gesetze gebrochen, nach denen ich gelebt habe. Am liebsten würde ich laut singen. Aber ich habe auch Gewissensbisse. Immer wieder muss ich an Ray denken. Ich sollte ja eigentlich ihn lieben. Manchmal, wenn er nicht Amarra, sondern tatsächlich mich gesehen hat, habe ich sogar geglaubt, dass ich das eines Tages könnte. Ich wurde nicht dazu geschaffen, meine eigentliche Bestimmung zu verraten und einen anderen als ihn zu lieben.
    »Hast du im Café etwas gegessen?«, frage ich. Wie durch ein Wunder klinge ich nicht aufgekratzt und atemlos, sondern vollkommen normal.
    Sean schüttelt den Kopf. Er wirkt ein wenig mitgenommen.
    Ich gebe ihm einen Schokoriegel und er zeigt stumm auf seine Jacke. Ich denke nicht mehr daran, was eben passiert ist, und gehe hin. Sosehr ich es auch will, weiß ich doch, dass wir uns nicht die ganze Zeit küssen und so tun können, als sei alles in bester Ordnung.
    Ich öffne den Reißverschluss der Innentasche seiner Jacke und hole den Inhalt heraus.
    Eine Kreditkarte mit entsprechenden Informationen der Bank. Ich habe keine Ahnung, wie viel Geld auf dem Konto ist, aber wir können alles gebrauchen. Ich empfinde plötzlich eine tiefe Liebe für meine Vormunde und eine unglaubliche Dankbarkeit.
    Eine glänzende CD ohne Etikett. Sie sieht alt aus.
    Und ein Vogel aus Wachs.
    Ich betrachte ihn und in meiner Brust schwillt etwas an. Mit den Fingern streiche ich über die Ränder der Flügel. Der Vogel ist von mir. Ich glaube nicht, dass ich einen eigenen Stil oder so was habe, aber ich erkenne, was ich geschaffen habe. Es ist einer meiner ersten Vögel. Mit ungeschickten Fingern, aber glücklich habe ich ihn in einer Ecke meines Zimmers geknetet, während Mina Ma schlief. Er war ein dunkles, aber köstliches Geheimnis, von dem niemand wissen durfte, nicht einmal Sean, den ich damals noch nicht kannte. Ich habe den Vogel unter meinem Bett versteckt. Kurz darauf war er verschwunden und ich habe ihn völlig vergessen.
    »Du bist der Einzige, der je davon wusste«, sage ich leise und streiche über die Flügel. »Wie kommt er hierher?«
    Sean fährt mit der Fingerspitze den Schnabel des Vogels entlang und lächelt ein wenig. »Ich glaube, deine Vormunde geben dir dadurch zu verstehen, dass sie immer Bescheid wussten und es dir trotzdem nicht verboten haben. Sie haben den Meistern nie etwas erzählt. Wahrscheinlich wollen sie dir auf diese Weise zeigen, wie lieb sie dich haben.«
    Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich will auf einmal wieder ein kleines Mädchen sein, das mit Mina Ma durch den Supermarkt geht und

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