Lost Girl. Im Schatten der Anderen
besuchen, wenn er dich einfach wieder gehen lässt. Bist du dir ganz sicher, dass er dich nicht wirklich beschützen wollte?«
»Ja!«, rufe ich und zu meinem Entsetzen treten mir Tränen in die Augen. Ich zwinkere heftig. »Das bin ich. Ich glaube auch, dass er das, was er auf dieser Aufnahme gesagt hat, nicht ernst meint! Er brauchte etwas von Erik, also hat er gesagt, was Erik hören wollte. An Matthew ist alles Lüge und Betrug.«
Sean sieht mich mit einer Mischung aus Zweifel und Mitgefühl an. »Deshalb könnte die CD trotzdem wichtig sein.«
»Ich habe ja auch nicht das Gegenteil behauptet. Vielleicht kann sie uns helfen, keine Ahnung.« Ich stehe auf. »Aber darüber können wir später noch nachdenken, wenn wir an einem sicheren Ort sind. Jetzt sollten wir aufbrechen.«
»Ja. Möglichst schnell.«
»Schon eine Idee, wohin?«
Wir überlegen beide angestrengt. Es tut gut, an etwas anderes zu denken.
Ich verbanne die CD in den hintersten Winkel meines Kopfes. Nach einer Weile sieht Sean mich an.
»Cromer. Das ist zwar keine dauerhafte Lösung, müsste aber für einige Tage gehen, bis wir wissen, wohin wir wollen. Es liegt an der Küste. Hin kommen wir mit dem Zug und dann mit dem Bus, aber das können wir noch nachsehen. Eine Großtante von mir wohnt dort. Sie mag mich, konnte aber meine Mutter nicht leiden. Meinen Vater auch nicht. Sie hat uns nie besucht und mein Dad hat bestimmt nie von ihr gesprochen, deshalb wissen die Meister wahrscheinlich gar nicht, dass es sie überhaupt gibt. Vielleicht finden sie es heraus, aber für kurze Zeit müssten wir dort sicher sein.«
»Hey, warum hast eigentlich immer nur du die guten Ideen?«, sage ich, aber ich ärgere mich nicht wirklich.
Sean lacht. »Wenn es dich tröstet: Ich weiß nicht, wie wir unbemerkt aus London herauskommen sollen. Selbst wenn ich mein Auto hätte, wäre es nicht klug, es zu verwenden, und die öffentlichen Verkehrsmittel werden sowieso von den Spähern überwacht.«
Ich überlege. Man kann sich natürlich die abenteuerlichsten Fluchtpläne ausdenken, aber als ich klein war, hat Erik mir beigebracht, dass die einfachste Lösung meist die beste ist. Unwillkürlich sehe ich in Gedanken Ophelia vor mir. Was könnte einfacher sein als einen Fehler zu wiederholen, der uns bereits in Schwierigkeiten gebracht hat?
Meine Miene hellt sich auf. »Ich habe vielleicht eine Lösung.«
Wir packen unser Zeug zusammen und vergewissern uns, dass wir den Dachboden genauso zurücklassen, wie wir ihn gestern vorgefunden haben. Ich stopfe noch einige leere Verpackungen in meine Tasche und dabei fällt mir ein Foto in die Hände. Ich habe es erst vor zwei Monaten aufgenommen: Nik, Lekha und Sasha. Nik steht am Fenster, Lekha hockt neben Sasha auf dem Boden und hilft ihr mit einigen Bauklötzen. Die drei mussten mich ansehen und lächeln, als ich das Foto gemacht habe. Ich will bald versuchen, sie anzurufen, damit ich weiß, wie es ihnen geht, und damit ich ihnen sagen kann, dass wir in Sicherheit sind.
In meiner Brust breitet sich eine schmerzhafte Leere aus. Obwohl ich erst zwei Tage weg bin, kommt es mir vor, als hätte ich Nik, Lekha und Sasha schon vor Jahren verlassen. Sie, Mina Ma, Erik, Ray und alle anderen. Alles liegt weit hinter mir. Die Zukunft droht mich zu verschlingen.
Ich stecke das Foto weg und hole stattdessen ein Kartenspiel heraus. Wir spielen, bis wir sicher sind, dass im Theater unter uns alles ruhig ist. Dann packen wir die Karten ein, nehmen unsere Sachen und gehen.
Wir schlüpfen auf den Hof hinaus und laufen am Wunschbrunnen vorbei zur Straße. Sean ist zum Zerreißen gespannt und auch ich spüre meine Nerven. Wir drehen uns ständig um und sehen nach rechts und links, damit niemand uns überraschen kann. Irgendwie bringen wir es fertig, uns dabei noch zu unterhalten. Es klingt fast so, als wären wir wie zwei ganz normale Jugendliche in der Stadt unterwegs. Wir sprechen über Musik, Bücher, lustige Ereignisse aus unserem Leben und die Orte, an denen wir am liebsten leben würden.
Einige Zeit später halten wir an einer roten Telefonzelle und wählen eine Nummer. Mein Herz rast und ich hole tief Luft.
»Hallo?«
Der Klang ihrer Stimme reißt Löcher in meine sorgfältig vorbereiteten Sätze. Ich will am liebsten schreien und weinen und mich an sie schmiegen und sie fest umarmen. Meine Hände ballen sich zu Fäusten.
»Ich will wissen, warum.«
Ophelia holt erschrocken Luft. »Eva?«
»Gebt euch keine Mühe, den Anruf
Weitere Kostenlose Bücher