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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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öffne die Tür und spähe hinaus. Ich sehe den Flur und die Tür des Nachbarzimmers, mehr nicht. Soweit ich erkennen kann, streichen keine Schatten über die Wand des Wohnzimmers, also müssen sie nach draußen gegangen sein.
    Am unteren Ende der Treppe, nicht weit von meiner Zimmertür entfernt, nimmt plötzlich ein Schatten Gestalt an. Ich unterdrücke einen Aufschrei und fahre zurück.
    »Wie kannst du nur!«, fauche ich.
    Sean trägt nur T-Shirt und Boxershorts, die Sachen, in denen er schläft, sieht aber hellwach aus. Ich starre ihn an.
    »Was ist denn hier los?«
    »Ophelia ist da«, flüstere ich. Ich ziehe ihn rasch ins Zimmer und schließe die Tür. »Sie war offenbar in London, aber sie scheint überstürzt aufgebrochen zu sein und ist ziemlich aufgewühlt. Weißt du, was in der Meisterei gestern Abend passiert sein könnte?«
    »Vielleicht ist ein neues Echo fertig geworden?«, fragt Sean trocken.
    Ich runzele ungeduldig die Stirn. »Noch was?«
    »Vielleicht fand auch ein Prozess statt«, sagt er. »In dem wöchentlichen Update, das wir kriegen, wurde so was angedeutet. Gegen ein Echo und seinen Vormund. Sie haben offenbar ein Gesetz gebrochen.«
    »Hm«, murmle ich, »mein Zimmer geht zum Garten raus, vielleicht hören wir etwas.«
    Seine Missbilligung ist ihm deutlich anzusehen, aber er hält mich nicht zurück. Ich schleiche zum Fenster, öffne es einen Spalt und knie mich ans eine Ende des Fenstersimses. Sean kniet sich mit resignierter Miene ans andere.
    Wir hören die beiden sprechen. Ophelia redet ganz leise. Offenbar zittern ihre Hände, denn ich höre ihr Feuerzeug ein paarmal klicken, bevor ich den Rauch ihrer Zigarette rieche.
    »Sie muss dreiundzwanzig, vierundzwanzig gewesen sein«, sagt sie zwischen zwei hastigen Zügen. »Und sie schrie. Mein Gott, wie sie schrie. Die Meister taten ihr nicht weh, aber sie hatte Angst. Ich musste bei ihr sitzen.« Sie macht eine Pause. »Bei ihr und zwei Wächtern. Die kennst du ja. Die sprechen nur, wenn sie müssen. Ansonsten stehen sie einfach da und gucken. Die ganze Zeit.«
    »Was sind das für Wächter?«, frage ich Sean ganz leise. Ich höre zum ersten Mal von ihnen.
    Er zögert und antwortet dann genauso leise: »Sie sind Echos. Wenn ein Echo missrät und nicht als Ersatz taugt, behalten die Meister es und ziehen es groß. Später wird es dann ein Wächter. Die Wächter schützen die Meisterei und die Meister. Sie sind den Meistern vollkommen hörig.«
    Ich wusste gar nicht, dass Echos missraten können, und senke den Blick auf meine Finger. Ich bin nicht missraten.
    »Wissen die Menschen von ihnen?«
    »Ich glaube, es kursieren Gerüchte.«
    Das überrascht mich nicht. Man weiß über die Meisterei kaum etwas Genaues. Bis vor Kurzem gab es keinerlei gesicherte Fakten. Die Meister begannen vor etwa zweihundert Jahren mit der Schaffung von Leben. Damals war es noch ein Geheimnis. Mit den Geschichten, die darüber entstanden, erschreckte man ungezogene Kinder. Aber im Lauf der Zeit kamen immer mehr Einzelheiten an die Öffentlichkeit. Heute ist allgemein bekannt, dass es die Meisterei gibt. Und man weiß von uns. Aber viele lehnen uns ab. Als unnatürliche Wesen. Ich frage mich, was die Menschen erst sagen würden, wenn sie wüssten, dass ein Echo auch missraten kann.
    »Behandeln die Meister sie schlecht?«, frage ich Sean. »Also die Wächter?«
    »Nein, eher im Gegenteil. Aber sie würden die Meisterei sowieso nie verraten. Sie kennen kein anderes Leben und tun bedingungslos alles, was die Meister von ihnen verlangen. Einige von ihnen sind zugleich auch als Späher tätig.«
    Vom Garten her kommt ein Geräusch und ich unterdrücke einen Aufschrei.
    Sean verstummt. Ich halte die Luft an, aber niemand tritt ans Fenster, um nach uns zu sehen. Meine Anspannung lässt erst nach, als ich ihre Stimmen wieder höre.
    »Und das Mädchen?« Das ist Mina Ma.
    »Brach zusammen, als man es zum Prozess holen wollte. Hörte nicht mehr auf zu schreien, flehte, man solle ihm noch eine Chance geben …«
    Im Garten macht sich Schweigen breit. Ich lehne den Kopf gegen den Sims. In meinem Mund ist ein saurer Geschmack. Ich sehe Sean an. Ich brauche etwas, an dem ich mich festhalten kann.
    »Wie haben sie abgestimmt?«
    »Ach«, sagt Ophelia. Ich höre ihr an, dass sie die Frage nicht mag. »Sie hatten natürlich das Gefühl, dass sie dem Mädchen nicht mehr trauen können und … ganz sicher haben sie sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber ich …

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