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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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zu kuscheln, ist schlimm genug. Wie halten andere Echos das aus?
    Aber ich habe keine andere Wahl. Ich habe Mina Ma versprochen, dass ich Amarra sein werde, und werde mein Versprechen halten, so gut ich kann. Ich will allerdings auch nicht zulassen, dass Eva verschwindet.
    In den nächsten Tagen umkreisen die Familie und ich uns, wir tasten uns vorsichtig aneinander heran. Nur Alisha verhält sich unbekümmert und normal. Sie wirkt überglücklich, rasend vor Freude, wie man es nur ist, wenn man etwas findet, was man schon verloren geglaubt hat. Ich beobachte sie heimlich. Glaubt sie wirklich, dass sie Amarra vor sich hat, wenn sie mich sieht?
    Nikhil redet nicht viel mit mir. Er ist nicht abweisend, aber er wahrt Distanz. Nach dem, was ich über ihn weiß, ist er für sein Alter sehr erwachsen. Er sieht in mir genau das, was ich bin. Ich muss mir sein Vertrauen erst verdienen.
    Sasha ist anders. Ihre Welt ist unkompliziert. Nachdem sie ihre Schüchternheit abgelegt hat, klettert sie mir auf den Schoß und bittet mich, ihr Zöpfe zu flechten. Sie wirft mit gerösteten Peperoni nach mir, wenn ihre Eltern nicht hersehen, und sie rückt nahe an mich heran, wenn ich vor der Glotze sitze. Nein, Fernseher muss ich hier sagen. Ich glaube, Sasha weiß, dass ich nicht ihre Schwester bin, aber sie nimmt mich so, wie ich bin, als eine Person, mit der sie jetzt zusammenlebt. Sie ist die Einzige, bei der ich Eva sein kann, ohne aufpassen zu müssen. Sie lacht über Wörter, die ich verwende. Besonders liebt sie das Wort krass, das ich ihr als Bezeichnung für etwas besonders Ausgefallenes, Eindrucksvolles, Schönes beibringe, und sie sagt anderen Leuten ständig, dass sie krass aussehen. Sie ist die Einzige in dieser Welt, mit der ich keine Schwierigkeiten habe.
    Als ich eine Woche in Bangalore bin, fragt Neil mich beim Abendessen: »Könntest du dir vorstellen, am Montag in die Schule zu gehen?«
    Ich spüre keinen Druck. Er ermutigt mich lediglich zu gehen, lässt mir aber die Wahl. Mit Ausnahme von Sasha hören alle am Tisch auf zu essen.
    »Lass ihr doch Zeit, sich einzugewöhnen, Neil«, protestiert Alisha. »Der Unfall war ein schreckliches Trauma! Und sie muss sich bestimmt noch an ihren neuen Körper gewöhnen …«
    »Wenn sie noch Zeit braucht, muss sie es nur sagen«, erwidert Neil ruhig, ohne auf den »neuen Körper« einzugehen. »Aber du weißt, dass Amarras Freundinnen schon nach ihr fragen.«
    Ich sehe ihn erschrocken an und mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Schule, Freundinnen. Ich schlucke. Ray.
    Aber ich darf der Angst nicht nachgeben. Ich darf nicht feige sein, muss meine Rolle überzeugend spielen. Ich habe Mina Ma versprochen, mein Bestes zu geben. Also muss ich alles tun, was Amarra getan hätte, und sie hätte es nicht erwarten können, ihre Freundinnen zu treffen. Auch nach Ray hätte sie sich gesehnt.
    Also sage ich das Gegenteil von dem, was ich eigentlich sagen will. »Ich komme schon zurecht«, sage ich zu Alisha. »Und ich will die anderen sehen. Montag gehe ich wieder in die Schule.«

4. Falsches Spiel
    W ir gehen zusammen zur Bushaltestelle, Nikhil, Sasha und ich. Mit jedem Schritt wächst meine Angst, wird meine Schultasche schwerer. In der Tasche befinden sich ein Schinkensandwich, eine Tüte Crisps (Chips heißen sie hier, das darf ich nicht vergessen), ein Schokoriegel, Amarras Stundenplan und die Bücher, die ich für den Unterricht am Montag brauche. Ich bin vorbereitet und auch wieder nicht. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Wenn die anderen nun wie Neil gleich auf den ersten Blick merken, dass ich eine Fälschung bin?
    Der einzige Unterschied ist, dass Neil von Amarras Echo weiß. Amarras Freundinnen ahnen nichts, haben also auch keinen Grund, misstrauisch zu sein.
    Vorausgesetzt ich mache keinen Fehler.
    »Wir gehen auf eine Privatschule«, sagt Nikhil unvermittelt. Er klingt freundlich. »Eine internationale Schule. Sie ist ziemlich klein, hat ungefähr fünfhundert Schüler. Deshalb kennt jeder jeden, verstehst du?«
    Prima, genau das brauche ich. Dass jeder jeden kennt. Aber ich bin für die Warnung dankbar.
    »Dein Klassenzimmer liegt im Gebäude der Highschool. Die Tür ist angeblich gelb, aber mich erinnert die Farbe eher an Kotze. Der Wasserspender beim Fußballplatz ist immer kaputt, versuche also gar nicht erst, ihn zu benutzen. Amarra wusste, dass er kaputt ist, und benutzte immer den im Schulhof.« Nikhil zögert. »Das meiste weißt du wahrscheinlich sowieso. Ich

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