Lost Land
entkommen, säÃe sie nun an die anderen gefesselt in diesem Pferch. Und er wusste, dass Lilah diese Hölle bereits durchgemacht hatte.
Als Benny Rotaugen-Charlie durch die Mitte des Lagers gehen sah, zeigte er mit dem Finger auf ihn und folgte seinem Weg, als schaute er über den Lauf eines Jagdgewehrs. Wenn Wünsche Kugeln wären, läge Charlie schon tot im Staub.
Vorsichtig und vollkommen geräuschlos krochen die drei vom Rand des Felsvorsprungs zurück und kauerten sich unter einer Weide zusammen.
»Schwierig«, sagte Lilah. »Mehr, als ich dachte.«
»Und auch mehr Kinder. 19.«
Benny wischte eine Stelle auf dem Boden frei, nahm sich einen kleinen Zweig und skizzierte dann eine Karte des Lagers. Die anderen halfen ihm dabei, fügten Dinge hinzu oder korrigierten seine Beobachtungen. Benny bat Lilah, die Landmarken der Umgebung einzuzeichnen: den Coldwater Creek, den blockierten Highway, die Rangerhütte und andere Orte, die während der jüngsten Ereignisse eine Rolle gespielt hatten. Stumm musterte Benny die Karte eine ganze Weile. Er rollte sich auf den Rücken und merkte sich die Position der Sonne. Bei den Pfadfindern hatte Mr Feeney ihnen beigebracht, wie man mithilfe des Sonnenstands die Tageszeit berechnen konnte, und Benny hatte eine vage Vorstellung davon, wann sie untergehen würde.
»Okay, uns bleiben noch etwa fünf Stunden bis zur Abenddämmerung«, flüsterte er.
»Weniger«, korrigierte Lilah und zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter. Benny und Nix schauten in die angedeutete Richtung und entdeckten eine schwere Wolkenbank.
»Regen?«, fragte Nix. »Ist das gut oder schlecht für uns?«
»Regen ist schlecht«, sagte Lilah. »Kann nicht hören, kann nicht sehen.«
»Die da unten aber auch nicht«, sagte Benny. »Wenn es regnet, werden wir irgendwie damit klarkommen. Wir werden eine Möglichkeit finden, den Regen für uns zu nutzen.«
Lilah warf einen letzten Blick über den Rand der Klippe. »Muss gehen. Viel ⦠zu â¦Â« Sie hielt inne und Benny sah, dass sie etwas austüftelte. Dann sagte sie sehr langsam: »Ich muss gehen, sofort. Ich habe viel zu tun.« Sie errötete leicht. »Ich kannnicht ⦠denken ⦠wie ich lese. Es ist schwerer ⦠Gedanken ⦠zu Worten zu formen.«
»Du schlägst dich besser, als ich es könnte, wenn ich die ganze Zeit allein gelebt hätte«, erklärte Nix. »Und du schlägst dich besser als Benny im Allgemeinen.«
»He!«, maulte Benny, grinste dabei jedoch.
»Es ist seltsam«, sagte Lilah. »Ich hätte nie gedacht, dass ich ⦠reden möchte. Mit Leuten. Ich rede sonst nur mit Annie und George. In meinem Kopf.«
Seit ihrer ersten Begegnung mit dem Verlorenen Mädchen hatte Benny zum ersten Mal das Gefühl, eine Vorstellung davon zu bekommen, wer sie wirklich war. Das Fenster, das sich geöffnet hatte, stand nur einen Spalt offen, aber er meinte, einen kurzen Blick auf die unendliche Einsamkeit und Trauer werfen zu können, die ihr Gefühlsleben bestimmten, so wie die Waffen und raschen Handlungen ihre Umwelt bestimmten.
»Lilah«, setzte er an, »wenn das hier vorbei ist â¦Â«
»Ja?«
»Ich würde dich gern besser kennenlernen. Ich fände es schön, wenn wir Freunde würden.« Rasch warf er Nix einen Blick zu, die aufmerksam zuhörte. »Du, ich, Nix. Und unsere anderen Freunde. Morgie Mitchell und Lou Chong.«
»Freunde«, wiederholte Lilah, als wäre ihr das Wort noch in keiner ihrer Lektüren begegnet. »Warum?«
Benny wollte gerade etwas darauf erwidern, als Nix ihm zuvorkam: »Weil nach alldem hier, nach allem, was uns widerfahren ist, Lilah ⦠sind wir bereits eine Familie.«
Das war zwar nicht genau das, was Benny hatte sagen wollen, doch Nix hatte recht. Er nickte.
Das Verlorene Mädchen dachte einen Moment nach und entschied dann: »Reden wir morgen darüber.«
»Okay«, sagte Nix. »Ich würde gern â¦Â«
»Wenn es ein Morgen gibt.« Lilah wandte sich ab und überprüfte ihre Waffen, bevor sie ging.
»Lilah, bist du sicher, dass du das hinbekommst?«, fragte Benny.
Statt einem Lächeln oder einer beruhigenden Bemerkung erwiderte Lilah lediglich: »Muss es versuchen.« Dann hielt sie inne und schaute Benny direkt in die Augen.
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