Lost Land
gezwungen, dasselbe Argument wieder und wieder vorzubringen.«
Benny starrte ihn an. »Wie viele waren es?«
»Zehn.«
»Und einen hast du laufen gelassen.«
»Ja.«
»Und die neun anderen hast du getötet?«
»Ja.« Der warme Schein der Nachmittagssonne fiel schräg durch die Bäume, warf Licht und Schatten auf die StraÃe und zeichnete violette Flächen auf die Mauern der Häuser. Ein Rotfuchs mit seinen drei Jungen huschte vor ihnen über die StraÃe. »Ich habe den Falschen laufen lassen«, fügte Tom hinzu.
»Woher hättest du das wissen sollen? Wenn du einen der anderen verschont hättest, selbst Vin oder Joey ⦠vielleicht hätte es überhaupt keinen Unterschied gemacht.«
»Mag sein. Aber auf dieses Gedankenspiel brauche ich mich gar nicht einzulassen: Ich habe eine Wahl getroffen und darunter haben eine Menge Leute gelitten.«
»Tom ⦠als du diese Wahl getroffen hast, da hattest du Charlie schon geschlagen, stimmtâs?«
»Ja. Er war verletzt und entwaffnet.«
»Dann hast du, finde ich, das Richtige getan. Man kann nicht in die Zukunft schauen. Du hast ihm geglaubt, als er gesagt hat, er würde sich ändern, oder?«
Tom nickte.
»Ich hätte genauso gehandelt, Tom«, erklärte Benny, »weil ich nicht in einer Welt leben möchte, in der so etwas wie Gnade ⦠oder auch Mitgefühl ⦠keinen Platz mehr hat. Nur weil Charlie gesagt hat, es wäre ein Fehler von dir gewesen, ihn leben zu lassen, hat er noch lange nicht recht.«
Tom antwortete nichts darauf, nickte aber und schenkte Benny ein mattes, trauriges Lächeln. Einen Moment lang standen die Brüder einfach nur da und sahen sich an â nahmen einander vermutlich zum allerersten Mal richtig wahr und schätzten einander richtig ein.
Dann zeigte Tom in eine Richtung, worauf Benny sich der Eingangstür eines Hauses zuwandte, in dessen Vorgarten wilde Pfirsichbäume wuchsen. »Das ist es«, sagte Tom.
»Wartet da drin ein Zombie?«
»Ja«, bestätigte Tom. »Genau genommen sind es zwei.«
»Müssen wir sie fesseln?«
»Nein. Das ist schon erledigt. Vor Jahren. In fast jedem Haus hier befindet sich ein Toter. Einige wurden bereits befriedet, der Rest wartet noch darauf, dass ihre Familienmitglieder jemandem den Auftrag dazu erteilen.«
»Ich weiÃ, das hört sich jetzt krass an, aber warum ziehst du nicht einfach von Haus zu Haus und ⦠du weiÃt schon ⦠befriedest sie. Befreist sie alle.«
»Weil viele der Menschen hier Angehörige in unserer Stadthaben. Es dauert eine Weile, aber normalerweise kommen die Leute irgendwann an den Punkt, an dem sie möchten, dass jemand loszieht und es so macht, wie ich es mache â statt ihre toten Verwandten in einem Rundumschlag erledigen zu lassen. Sie wünschen sich einen respektvollen Abschluss, mit Worten, die ihren toten Angehörigen vorgelesen werden, um dann die Toten in ihren eigenen Häusern ruhen zu lassen. Ein Abschluss ist erst dann ein Abschluss, wenn jemand bereit dazu ist, die Tür endgültig zu schlieÃen. Verstehst du, was ich meine?«
Benny nickte. »Hast du ein Bild von den ⦠äh ⦠den Leuten hier in diesem Haus? Damit wir wissen, wer sie sind? Damit wir sicher sein können.«
»Drinnen hängen Bilder. AuÃerdem kenne ich die Namen von allen Bewohnern in Sunset Hollow. Ich war schon oft hier. Ich war einer derjenigen, die von Haus zu Haus gegangen sind und die Toten gefesselt haben. Ein paar Mönche haben mir dabei geholfen, aber ich kannte hier jeden.« Tom ging zur Eingangstür. »Bist du so weit?«
Benny warf einen Blick auf Tom und dann auf die Haustür. »Du willst, dass ich das hier tue, stimmtâs?«
Tom wirkte traurig. »Ich will, dass wir das hier tun.«
»Wenn ich meinen Teil beitrage ⦠dann werde ich wie du sein. Dann werde ich diese Sache tun.«
»Ja.«
»Für immer?«
»Ich weià es nicht, Benny. Ich hab dir ja gesagt, dass ich mit dieser Sache auch fertig bin. Aber ich weià nicht, ob das stimmt. AuÃerdem können wir nicht in die Zukunft schauen, stimmtâs?«
»Was ist, wenn ich es nicht kann?«
»Wenn du es nicht kannst, dann werde ich es tun. AnschlieÃend gehen wir zur Raststätte, übernachten dort und kehren am Morgen nach Hause zurück.
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