Lost on Nairne Island
der Backe. Ihr Platz war auf der anderen Seite des Klassenraums, doch bestand kein Zweifel daran, über wen sie gerade redete. Sie war von einem Pulk an Leuten umgeben, darunter auch Brit und Sam. Erst wurde wild getuschelt, dann drehten sich alle zu mir um und glotzten mich an. Ich fragte mich, ob sich so wohl Tiere im Zoo fühlten. Ich war so was wie ein Exponat, eine Laune der Natur und eine Missgeburt. Ich steckte die Hand in die Tasche, damit ich den Brief meines Vaters spüren konnte. Dabei tat ich so, als würde ich nichts davon mitkriegen, dass sich alle über mich das Maul zerrissen, und konzentrierte mich stattdessen auf meine Unterrichtsnotizen. Heute mussten wir Referate halten. Ich sollte einen fünfminütigen Vortrag über Diabetes halten, doch alles, was ich vorbereitet hatte, war plötzlich wie aus meinem Gedächtnis gelöscht. Stattdessen drangen immer wieder vereinzelte Worte von dem Tisch drüben zu mir rüber: verrückt, Irrenanstalt, widerlich, ihr eigener Bruder .
SchlieÃlich bat Miss Raymond uns alle, Platz zu nehmen. Auf dem Weg zu ihrem Tisch kam Sam bei mir vorbei. Sie zögerte kurz und verlagerte ihr Gewicht unsicher von einem Bein aufs andere.
»Ich hab ja versucht, dich zu warnen, dass du dich vor Nicole in Acht nehmen sollst«, sagte sie leise. »Sie macht jeden fertig, der ihr blöd kommt.« Dann huschte Sam an mir vorbei und setzte sich.
Ich saà da und starrte vor mich hin auf den zerkratzten Tisch. Generationen von Schülern hatten darauf ihre Namen hinterlassen. Mit dem Finger fuhr ich einen der eingeritzten Schriftzüge nach. Ich musste die ganze Zeit daran denken, wie Sam gemeint hatte, Nicole habe die Macht, Leute zu vernichten. War es wirklich so oder verliehen wir ihr diese Macht? Jahrelang hatte ich so getan, als hätte meine Mutter die Macht, mich von meinem Dad fernzuhalten. Doch die Wahrheit lautete: Ich hatte es mir leicht gemacht, daher lieà ich es zu. Ich hatte die Macht, mein Leben zu ruinieren, und ich hatte die Macht, es wieder unter Kontrolle zu bringen. Als ich jetzt die Hand hob, spürte ich, wie sich mein Magen verkrampfte.
»Ich würde mein Referat gern als Erste halten«, sagte ich und stand auf. Ich machte mir nicht die Mühe, meine Unterlagen mitzunehmen. Die würde ich eh nicht brauchen.
Miss Raymond wirkte überrascht. In unserer Klasse meldete sich in der Regel nur selten jemand freiwillig und ich selbst hatte mich in diesem Schuljahr auch noch nicht unbedingt als Musterschülerin hervorgetan. Ich hörte ein leises Raunen und Flüstern durch den Raum gehen, als ich mich nach vorne begab.
»Mein Thema war eigentlich Diabetes, aber ich habe mich umentschieden.« Dann hielt ich kurz inne, um tief durchzuatmen, und sah mich im Klassenzimmer um. Dabei sorgte ich dafür, dass ich Nicoles Blick begegnete. »Ich werde mein Referat zum Thema Schizophrenie halten.« Irgendwo weiter hinten sog doch tatsächlich einer lautstark die Luft ein, so als hätte ich angekündigt, ich würde über Penis-Implantate sprechen wollen.
»Ich weià zwar nicht, wie viele Fälle von Schizophrenie es gibt, aber psychische Krankheiten sind keine Seltenheit. Ungefähr jeder Dritte leidet irgendwann in seinem Leben an einem psychischen Problem. Ich selbst weià über dieses Thema relativ viel, weil mein eigener Dad an Schizophrenie erkrankt ist.«
An dieser Stelle meines Vortrags sah ich mich im Klassenzimmer um, doch alle wichen meinem Blick aus.
»Häufige Symptome dieser Erkrankung sind Halluzinationen, Wahnvorstellungen, unzusammenhängendes Gerede und ein Verhalten, das als absonderlich beschrieben wird. Doch Schizophrenie ist nicht, wie viele Leute glauben, das Gleiche wie eine multiple Persönlichkeitsstörung. Ein weiterer Irrglaube ist, dass Betroffene gewalttätig wären oder viel öfter straffällig werden. Das ist einfach nicht wahr.
Schizophrenie ist für gewöhnlich durch Medikamente und eine psychologische Betreuung unter Kontrolle zu bringen. Mein Dad leidet schon an dieser Krankheit, seit ich ein Kind war. Er mag zwar schizophren sein, doch lässt er sich sein Leben nicht von der Krankheit bestimmen. Er ist Künstler, und zwar einer der besten, die ich kenne. Ich bin stolz darauf, dass er mein Dad ist, und ich bin stolz auf ihn als Ganzes, die Krankheit mit eingeschlossen, denn sie ist ein Teil seiner Persönlichkeit.
Die
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