Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
war auf dem Weg zu einer Beerdigung, als der Anruf kam.«
Als Harry Ben nachmittags vom Kindergarten abholt, sagt er: »Wo ist Mama? Ich will Mama.«
Lotta und ich bleiben eine Woche im Krankenhaus.
Neues Wort: Epilepsie. »Gewitter im Kopf«, erkläre ich Ben. »Da schießen alle Hirnzellen durcheinander und der Körper weiß nicht, was er zuerst machen soll.«
»Arme Lotta«, sagt Ben und streichelt über ihren Kopf. »Du hast doch Angst bei Gewitter.«
»Lotta merkt das gar nicht. Sie erinnert sich später auch nicht daran. Das ist wie Träumen.«
»Aber beim Träumen kann man doch auch Angst haben.«
Ich denke an Lottas scharfes Luftholen, an ihr Zittern, ihre Gänsehaut. Ich möchte glauben, was in den Broschüren steht, die ich auf der Station einsammele. Anfälle werden nicht erinnert. Es bleiben höchstens die Schmerzen von der überstarken Muskelanspannung. »Wie nach einem Marathonlauf«, so fühle sich Lotta, meint Dr. Waltz.
In der Broschüre »Das anfallskranke Kind« lese ich: »Der epileptische Anfall ist eine von vielen krankhaften Reaktionsformen des Gehirns. Er ist die ›Reaktion‹ auf eine Schädigung und/oder vorübergehende Irritation des Gehirns.« Was Lottas Gehirn geschädigt hat, liegt auf der Hand, wir müssen nicht lange suchen. Ich sehe immer noch den schwarzen Fleck vor mir, in ihrem grauen Gehirn. Ein Kind mit einer Cerebralparese wie Lotta muss nicht zwangsläufig epileptische Anfälle bekommen, doch »es passt«, wie ein Arzt später sagen wird.
Es gibt nicht nur eine Epilepsie, es gibt mehrere. Ursachen, Verlauf, Erscheinungsformen – alles kann sich so stark unterscheiden wie die Menschen, die davon betroffen sind. Es gibt leichte und schwere, kleine und große. Einen epileptischen Anfall erleben etwa fünf Prozent aller Menschen weltweit, lese ich in einer anderen Broschüre, sei es zum Beispiel durch Fieber oder Schlafentzug. Erst wenn es regelmäßig zu Anfällen kommt, spricht man von Epilepsie. Etwa fünfzig Millionen Menschen weltweit leiden daran. Genaue Zahlen gibt es nicht. Für Epilepsie gilt in Deutschland keine Meldepflicht und viele Betroffene verheimlichen sie.
Alexander der Große soll Epileptiker gewesen sein, van Gogh, Lenin, Alfred Nobel. Früher glaubte man, Epileptiker seien von Dämonen besessen, oder sie hätten einen direkten Draht zu den Göttern. Heute glauben viele, es sei eine Geisteskrankheit, die geistige Behinderung mit sich bringt oder verminderte Intelligenz. Das ist sie nicht, nur eine Krankheit, die vom Gehirn her rührt. Dennoch verschweigen viele ihre Erkrankung, wie etwa im Kieler »Tatort« die Figur einer Ermittlerin. Sie fürchten mitleidige Blicke, dass sie keinen guten Job kriegen oder kein zweites Date. Die meisten können mithilfe ärztlicher Behandlung ein normales Leben führen. Kein Alkohol, regelmäßiger Schlaf und in schlechten Fällen kein Führerschein – mehr nicht.
Es muss nicht immer Schaum vor dem Mund sein. Eine zuckende Hand, Augenblinzeln, heftiges Nicken, ein Mensch, der völlig ohne Grund immer wieder das Fenster auf- und zumacht wie in Trance. Ein Kind, das in die Luft starrt und scheinbar nicht zuhört. Hans-guck-in-die-Luft war Epileptiker. Es gibt viele verschiedene Formen von Epilepsie.
Lottas Krampf war ein Grand-Mal-Anfall. Großes Übel. Der ganze Körper ist betroffen. »Wird das nun immer so lange dauern?«, frage ich Dr. Waltz. »Wird sie immer wieder zwei Stunden lange Anfälle haben?«
»Um Gottes willen, nein. Es kann sein, dass Ihre Tochter nie wieder einen Anfall hat. Es kann auch sein, dass dieser Status erst der Anfang war. Das ist gar nicht untypisch für Epilepsie: am Beginn ein heftiger Status und danach kleinere Anfälle. Sie schreiben alles auf und sei es noch so kurz. Sie rufen mich an, wenn Sie Fragen haben. Das mit dem Video war eine gute Idee, das wäre gut, wenn Sie das weitermachen.«
Die meisten Grand-Mal-Anfälle dauern nur zwei Minuten. Sie enden, ohne dass man zu Medikamenten oder gar zu einer Vollnarkose greifen muss. Wenn sie nicht von alleine aufhören, spricht man von einem Status. »Bei großen Anfällen (Grand-Mal-Anfälle) ist ein solcher Status lebensbedrohlich und erfordert rasche ärztliche Hilfe mit anschließender Einweisung in eine Klinik«, lese ich in der Broschüre »Unser Kind hat Anfälle«. Es könnte zu Herz-Rhythmus-Störungen kommen. Atemstillstand. Tod.
Vor nicht einmal drei Monaten saß ich mit Lotta und Ben im Flugzeug nach New York, hoch über
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