Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
Vom Netzwerk:
Kühlpack auf die Stirn. Nach ein paar Minuten: weiterwanken, weiterstrahlen.
    Wir sind nicht die Einzigen mit Epilepsie hier. Ich kenne noch nicht den Vornamen der Mutter neben mir, aber schon die Medikamente, die ihre Tochter nicht vertragen hat. Es ist eine Spielgruppe, wir machen sie zu unserer Selbsthilfegruppe.
    Wie konnte ich das vergessen. Was war das für eine Erleichterung, als nach Bens Geburt die erste Mutter im Babymassagekurs sagte: »Wie kann etwas so Wundervolles gleichzeitig so langweilig und anstrengend sein.« Wie sehr es jetzt hilft, wenn ein anderer sagt: »Drei Anfälle letzte Nacht, aber am Morgen hat sie mich angelächelt.«
    Ich lerne: Lotta hat nicht viele Anfälle. Viel ist nicht dreimal am Tag wie früher oder dreimal die Woche wie jetzt. Viel ist dreimal die Stunde. Das könnte ich nicht, denke ich. »Dafür habt ihr die Status-Gefahr«, sagt mir die Mutter. »Das würde mich ja wahnsinnig machen.«
    Schlimm ist immer nur das, was die anderen haben.
    Wer nicht genau hinschaut, könnte uns für eine ganz normale Krabbelgruppe halten. Im Flur Schuhe ausziehen, essen nur auf der Bank neben den Matten und Pampers bitte draußen in den Mülleimer. Wir stehen im Kreis, die Kinder liegen auf einem bunten Tuch, wir singen: »Ein großer, ein runder, ein roter Luftballon fliegt langsam immer höher, gleich fliegt er mir davon ...«
    Ich halte inne. »Ach, nein Lotta, jetzt nicht.« In meinen Armen verdreht sie die Augen, sie krampft.
    Die anderen singen weiter, die Mutter neben mir sagt leise: »Hast du das schon gemerkt, bevor es losging? Du hast die Aura gespürt, nicht wahr?«
    Lotta tut einen tiefen Atemzug und es ist vorbei. Sie lächelt wie über einen Witz, den nur sie gehört hat. »Die Aura?«
    »Das ist eine Vorahnung, die viele Eltern haben. Oder auch die Kinder selbst. In einer anderen Gruppe hat ein Junge beim Spielen plötzlich gesagt: Ich muss mich kurz hinlegen, ich kriege einen Krampf.«
    »Das geht?«
    »Das spürt man.«
    Zu Hause werde ich nachlesen: Eine Aura ist nicht so esoterisch, wie es klingt, die Epilepsie-Literatur kennt das Phänomen ebenfalls. Man kann einem Menschen auch ansehen, ob er niesen muss, bevor er es tut. Mit epileptischen Anfällen ist es ähnlich. Ein Gesichtsausdruck, ein Atemrhythmus, eine bestimmte Körperspannung. Auch ich merke es, immer öfter. Am leichtesten geht es, wenn ich Lotta auf dem Arm halte und sie anschaue. Eine Aura kann ich nicht spüren, wenn Lotta in ihrem Bett liegt und ich unten im Wohnzimmer bin.
    »Du kennst dein Kind schließlich am besten«, sagt die Mutter neben mir im Singkreis.
    Ich stimme wieder in den Gesang ein. »Jetzt habe ich ihn gefangen, da hab ich aber Glück ...« Lotta hatte einen Anfall, in aller Öffentlichkeit, und die anderen verhalten sich, als wäre sie gestolpert. Passiert. Nicht so schlimm. Und sonst so?
    Wir bewegen uns in einem geschützten Raum. Wir leben in derselben Zeitzone, wir bewegen uns alle in Zeitlupe. »Wie gut Lotta aussieht«, »Marvin macht ja Riesenfortschritte«. Es heult keiner. Es jammert keiner. Es lachen viele. Hier kann ich sagen: »Eine Woche ohne Anfall!«, und alle sagen »Super!« und keiner »Ihr Armen«. Wir zählen wie die Anonymen Alkoholiker, eine Woche ohne, zwei Wochen ohne. »Hallo, ich bin Sandra und meine Tochter ...«

    »Das ist fantastisch«, erzähle ich Nina am Telefon.
    »Was hast du denn erwartet?«, sagt sie. »Wie schön die Welt wäre, wenn alle behinderte Kinder hätten, oder?« Kein Anstarren, kein Weggucken, Normalität. »Ich gehe schon nicht mehr auf Spielplätze«, sagt sie. »Was soll ich da?«
    Sperren die anderen uns aus oder isolieren wir uns selbst? Wollen wir vielleicht auch am liebsten unter uns bleiben?
    Wie unangenehm die Blicke beim Bäcker. Wie verkrampft die beste Freundin von früher. Wie mitleidig die Nachbarin. Wir sind uns einig. Nirgendwo kann man so ausgiebig über das Dilemma Dinkelkekse oder Gummibärchen lästern wie in einer Spielgruppe für von Behinderung bedrohte Kinder. »Warum erwarten immer alle, dass ich weine?«, fragt mich eine Mutter. »Ich war mit einer Freundin essen. Jetzt kannst du mir alles erzählen, hat sie gesagt und erwartet, dass ich den Horror auspacke. Darf ich nicht mehr lachen? Darf ich nicht mehr fröhlich sein? Kann ich mein Kind nicht einfach toll finden?«
    »Ich habe nie gezweifelt«, sagt ein Vater, der einzige im Raum. »Ich habe meine Tochter vom ersten Tag an angenommen. Ich war immer stolz auf sie,

Weitere Kostenlose Bücher