Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
sogar stolzer als auf ein Kind, das nicht zu kämpfen hat.«
Als Ben klein war, lief in unserem Babymassagekurs ein unausgeschriebener Wettbewerb, wer am schnellsten abnimmt. Läuft hier ein Wettbewerb, wer am schnellsten annimmt? Deutschland sucht die Supereltern, jetzt auch für Behinderte.
»Jetzt habe ich fast ein schlechtes Gewissen«, erzähle ich Clara nachmittags auf dem Spielplatz.
»Du hast das doch gut angenommen.«
»Meinst du?«
»Du musstest mit so viel klarkommen: erst die Gefäßfehlbildung, dann die körperliche Behinderung, ein paar Wochen später heißt es: blind. Jetzt Epilepsie. Was hatte dieser Vater denn anzunehmen?«
»Ich habe den Namen des Syndroms vergessen. Auf jeden Fall Entwicklungsverzögerung. Aber das Kind läuft.«
»Na siehst du.«
Wovon hängt es ab, wie schnell man etwas annimmt? Von der Schwere dessen, was man annehmen muss? Von der eigenen Charakterstärke? Von der seelischen Widerstandskraft? »Ist das überhaupt ein linearer Prozess?«, frage ich Clara. »Es gibt doch immer Tage, an denen man alles gut findet, und am nächsten zweifelt man wieder.«
»Vielleicht ist das wie mit dem Durchschlafen«, sagt sie. »Wenn man alles glaubt, was einem erzählt wird, schlafen die Babys der anderen schon mit einer Woche zwölf Stunden am Stück.«
In der Spielgruppe haben sie über Kindergärten gesprochen. »Hast du Lotta schon angemeldet?«, hat mich eine Mutter gefragt. Sollte ich. Sie ist schon fast zwei Jahre alt. Aber in welchen Kindergarten soll sie gehen? Ich frage mich, aber spreche es nicht aus: Was macht denn ein Kind im Kindergarten, das nicht klettern, nicht puzzeln und nicht mit anderen fangen spielen kann? Kann das mehr sein als nur Verwahrung?
Nina sagt: »Nimm auf jeden Fall einen heilpädagogischen Kindergarten. Ich würde so gerne, aber die Ärzte meinen, ich sollte Leon lieber in einen integrativen schicken.«
Neue Wörter: Heilpädagogischer Kindergarten: nur behinderte Kinder, etwa acht pro Gruppe, Heilpädagogen, Physiotherapeuten, Motopäden immer vor Ort. Rundumversorgung. Sonderkindergarten.
»Dann müsste ich ja gar nicht mehr zu Therapeuten gehen«, erzähle ich Harry. »Stell dir vor, die machen das alles im Kindergarten.«
Integrativer Kindergarten: gemischt. Meist fünf behinderte, zehn nicht behinderte Kinder in einer Gruppe, zwei bis drei Erzieher, Physiotherapeuten und Logopäden vor Ort, manchmal allerdings nur stundenweise.
Regelkindergarten: das, wo Ben hingeht. Bis zu 25 Kinder pro Gruppe, zwei Erzieher. Das, was die meisten von uns aus ihrer eigenen Kindheit kennen.
»Oder bist du etwa Inklusionsanhänger?«, fragt Nina.
»Ich bin mir nicht mal sicher, was das ist.«
»Das kommt jetzt auf uns alle zu, spätestens in der Schule. Ganz normale Schulen sollen auch Behinderte aufnehmen. Eine Schule für alle. Und eben auch ein Kindergarten für alle.«
»Klingt doch gut.«
»Ja, für die anderen. Aber für dein Kind?«
»Wieso?«
»Lotta braucht ja wohl etwas mehr als andere.«
Ich schweige kurz. »Inklusion, Integration – so ganz verstehe ich das nicht.«
»Integration hieß: Du darfst mitmachen. Inklusion: Wir gehören alle zusammen.«
»Ist doch egal, was obendrüber steht, oder?«
»Nicht, wenn die Förderschulen deswegen schließen.«
»Ist das denn so?«
Neues Wort: Inklusion. Nicht Integration: Der Einzelne muss sich ändern, um sich in die Gesellschaft einzugliedern. Sondern: Die Gesellschaft muss sich ändern, sodass sie keinen mehr ausschließt. Alle Menschen sind verschieden, seien sie behindert oder nicht, haben sie nun einen Migrationshintergrund oder nicht. Alle haben den gleichen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe und den gleichen Zugang zu Bildung. Das ist als Menschenrecht in der UN-Behindertenrechts-Konvention verankert, die 2006 verabschiedet wurde. Seit 2009, dem Jahr, in dem Lotta geboren wurde, ist sie auch in Deutschland ratifiziert. Seitdem wird darüber gestritten, wie UN-Recht zu deutscher Wirklichkeit werden kann und wie man allen Kindern den Zugang zu den gleichen Schulen ermöglichen kann. Wie das gehen soll, ob etwa die Sonderschulen geschlossen werden sollen, darüber wird heftig gestritten. Die Kultusministerkonferenz der Länder hat Inklusion zu dem Bildungsthema 2013 erklärt.
In Köln gibt es einen heilpädagogischen Kindergarten. »Vielleicht sollten wir uns den zuerst ansehen«, sage ich zu Harry.
»Gerne«, sagt er. »Vielleicht nach Paris?«
»Paris?«
»Nur eine
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