Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Krankenhaus.
Anfälle, täglich.
Kein Status, kein Krankenwagen, aber Diazepam, manchmal dreimal die Woche. Es wirkt immer. Zombie-Baby. Das Diazepam ist ein Segen, denn es bricht den Krampf. Das Diazepam ist ein Fluch, denn es schaltet unser Kind aus. Der Mund immer offen, der Blick leer. Lotta schläft 16 Stunden am Tag. Wenn sie wacher wird, wimmert sie. Sie hatte immer schon Probleme mit dem Schlucken. Jetzt gibt es keine Mahlzeit ohne Übergeben. Ich füttere über drei Stunden am Tag und den Rest der Zeit flöße ich ihr Wasser mit dem Löffel ein.
Wir versuchen ein neues Medikament. Keine Krämpfe, aber auch keine Lotta. Ihre Augen sind niemals ganz geöffnet, sie ist eine Wachspuppe und liegt auf dem Sofa. »Dass ich ihr Schreien mal vermissen würde ...«, sagt Harry. Es ist zu still.
»Wir müssen dem Medikament etwas Zeit geben«, sagt Dr. Waltz. »Es ist schwer zu beurteilen, ob der Infekt sie so schwächt oder das Medikament.«
Es ist hart zu akzeptieren, dass man etwas nie haben wird. Es ist härter, das zu verlieren, was man hatte.
Ich trage Lotta wieder viel im Tragetuch. Ich schlafe mit dem Gesicht zu ihr gedreht. Sie lächelt nicht, sie schreit nicht. Selbst das »Hüm, hüm«, die nach unten gezogenen Mundwinkel sind weg. Kein kritischer Blick. Kein Stirnrunzeln. Keine Mimik. Unsere kleine alte Dame scheint gestorben zu sein.
Ich lerne eine neue Sprache. Früher musste ich lernen, mit Lotta zu reden, ohne dass sie mit Worten antwortet. Nun muss ich lernen, mit ihr zu sprechen, ohne dass sie zurücklächelt. Ich muss mich mit dem Wenigen begnügen, was ich habe. Wie Lotta ganz ruhig wird, wenn ich sie im Arm halte. Wie sie ihre Muskeln entspannt, wenn ich sie streichele. Wie der Krampf manchmal nachlässt, wenn ich sage: »Nun reicht’s aber, Lotta.«
Es reicht nicht, um glücklich zu sein. Wir hatten so viel.
»Lächeln ist ein Ausdruck des Wohlbefindens«, sagt Feldkamp. »Ihrem Kind geht es einfach nicht gut genug.«
»Es kommt mir vor, als hätte einer die Löschtaste gedrückt«, sage ich. »Meinen Sie, sie wird noch einmal laut lachen?«
»Was man einmal an Fortschritten erzielt hat, das hat man. Das kommt wieder, auch wenn es lange dauert. So eine Lungenentzündung kann ein behindertes Kind viel stärker zurückwerfen als ein nicht behindertes. Sie brauchen Geduld.«
»Ich weiß.«
Er setzt vorsichtig nach: »Nur ... Was man in Lottas Alter noch nicht an Fortschritten erzielt hat, das wird immer unwahrscheinlicher, je älter sie wird.«
Habe ich einmal davon geträumt, ihr das Laufen beizubringen? Jetzt müssen wir Sehfrühförderung und Physio immer öfter absagen. Wir gehen nicht mehr zur Spielgruppe. Lotta geht es zu schlecht. Ich träume von einem Lächeln und auch diese Träume muss ich mir verbieten. Zukunft und Vergangenheit – jetzt sind beide tabu.
Später werden wir erfahren, dass Lotta ein »Ereignis im Kleinhirn« hatte.
»Ein Ereignis?«, frage ich.
Eine Blutung. Oder ein Schlaganfall. »Aber nur ein kleiner«, sagt ein Arzt. »Das ist nichts im Vergleich zu dem, was sie schon überstanden hat. Das kann das Hirn kompensieren.«
Wie viel können wir noch überstehen? Eines Mittags kommt Harry nach Hause und findet mich heulend vor Bens Autokiste mit einem Tuch und einem Eimer Wasser. »Was?«, fragt er.
»Lotta hat sich wieder ...«, sage ich und zeige in die Kiste.
»Das musst du doch jetzt nicht ...«
»Doch. Das verzeiht er ihr nie.«
Lotta wird zwei. Wir singen »Viel Glück und viel Segen«. Sie krampft.
Ich sage alle Aufträge ab. Es ist mir egal. Harry und ich gehen nicht mehr aus. Es ist uns egal.
Wir haben Hilfe, Familie, Nachbarn, Jodi. Wir haben uns. Reicht es trotzdem nicht?
Wo ist der Punkt, an dem man es nicht mehr schafft? In vielen Broschüren, die mir die Ärzte mitgegeben haben, ging es auf der letzten Seite ums Heim. »Ihr Arzt und das zuständige Sozialamt werden Sie gerne beraten, welches Heim gegebenenfalls infrage kommt.«
»Ich war heute Mittag mit einem Kollegen essen«, erzählt Harry. »Dessen Nichte ist schwerbehindert. Die Eltern haben sie schon relativ früh in eine sehr gute Einrichtung gegeben ...«
»Willst du damit sagen ...?«
»Nein, natürlich nicht.«
Ich konnte mir nie vorstellen, dass man sein Kind lieben kann und es trotzdem in ein Heim gibt. Nun kann ich mir vorstellen, dass es einen Punkt gibt, an dem es nicht mehr anders geht. Einen Punkt, an dem es das Kind zumindest zeitweise bei Leuten besser hat, die
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