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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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die Arztbriefe, die ich bereitgelegt habe. »Können Sie mir das kopieren und zuschicken?«
    »Nicht doch ein Kaffee?«
    Sie schüttelt wieder den Kopf. »Ist der Speichelfluss immer so ausgeprägt?« Ich blicke auf Lotta und wische ihr den Mund ab. »Wie oft wischen Sie ihr am Tag den Mund ab?« Ben hebt den Kopf und hört zu.
    »Das weiß ich wirklich nicht«, sage ich.
    »Wie oft stehen Sie nachts auf, um nach ihr zu sehen?«
    »Zwei Mal?«
    »Kann sie greifen?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Sitzen?«
    »Nein.«
    »Krabbeln? Robben?«
    »Nein.«
    »Gar nichts?«, fragt die Ärztin.
    Ben sagt: »Sie kann lächeln.«
    »Ja, das stimmt. Richtig schön lächeln«, stimme ich ihm zu.
    Der Stift der Ärztin verharrt in der Luft. »Sonst nichts?«
    »Und sie kann schreien«, sagt Ben. »Ganz laut.«
    Lotta lässt den Kopf auf die andere Seite fallen. Ich lasse sie auf meinen Knien reiten.
    »Lautiert sie?«, fragt die Ärztin. Der Stift in der Luft.
    Ich schüttele den Kopf: »Wenn sie nicht schreit, schweigt sie.«
    Ben: »Sie schaukelt gerne.«
    Die Ärztin: »Aber nicht alleine?«
    Ich schüttele den Kopf. »Sie hat einmal richtig laut gelacht«, sage ich. »Aber nur an einem Tag, danach ...«
    Ben sagt: »Lotta spielt gerne Verstecken. Und sie kann gut Albträume verjagen, deshalb schläfst du jetzt in meinem Zimmer, nicht wahr, Lotta?«
    Die Ärztin schaut ausdruckslos. »Albträume verjagen?«
    Ben nickt.
    Wir hören einen Schlüssel im Schloss. Harry. »Hallo, was macht ihr gerade?«
    »Im Wohnzimmer«, rufe ich.
    »Wir sagen der Frau, was Lotta alles kann«, ruft Ben in den Flur.
    »Haben Sie schon: ihre Eltern in den Wahnsinn treiben?«, fragt Harry, als er ins Zimmer kommt.
    »Schmusen kann sie toll!«, sagt Ben. »Und gut zuhören. Und Geheimnisse nicht weitersagen. Und brav sein. Und krabbeln!«
    »Krabbeln?«, fragt die Ärztin. Sie schaut auf. »Stimmt das, Frau Roth?«
    Ich schaue zu Ben. Der sagt: »Ja, Lotta kann krabbeln. Oder, Mama?«
    »Ja, Lotta kann krabbeln.«
    Ben grinst mir zu und wir sagen gleichzeitig: »Im Geheimen.«
    Ben umarmt Lotta auf meinem Schoß, sie lächelt und er sagt ihr ins Ohr: »Und liebhaben, das kannst du sehr, sehr gut.«
    Die Ärztin macht ihr Kreuz an der Stelle, über der ihr Stift die ganze Zeit in der Luft schwebte. Nichts.

    Nichts, was Sie und ich wichtig finden, hat der Neurologe damals gesagt. Ist das so? Die Liste dessen, was Lotta nicht kann, ist lang. Die Liste dessen, was sie kann, ist länger. Auf welcher Liste stehen die wichtigen Dinge?
    »War das jetzt ungeschickt?«, frage ich Harry abends.
    Er zuckt die Achseln und räumt die Zeitschriften vom Couchtisch auf. »Was ist denn das?«, fragt er und hält ein Wissenschaftsmagazin für Kinder hoch.
    »Das wollte Ben unbedingt.«
    Harry liest und lacht laut auf.
    »Was denn?«
    »Das ist was für Lotta.« Grinsend hält er die Titelgeschichte hoch: »Seesterne. Kein Hirn und doch genial.«

    Lotta kriegt Pflegestufe 3. »Jackpot«, sagt Harry, als er den Brief öffnet und es klingt traurig. Dies ist das Ergebnis, auf das wir gehofft hatten, die höchste Pflegestufe. Es ist so wie damals, als wir Lottas Behindertenausweis bekamen: »100 Prozent schwerbehindert.« Wir sollten uns freuen. Laut Ausweis braucht Lotta eine Begleitperson. Mit ihr zusammen kann ich umsonst Straßenbahn fahren, kostenlos in den Zoo, drei Stunden im eingeschränkten Halteverbot parken. Wir kriegen Steuervergünstigungen. Jetzt Pflegestufe 3, das sind 700 Euro im Monat. Andere müssen dafür lange kämpfen. Und doch. Wenn einer sagen würde: Sie haben keinen Anspruch auf diese Pflegestufe oder diesen Ausweis – dann gäbe es noch einen Spielraum, einen Rest Zweifel. Hoffnung.
    Die meisten Eltern zögern lange, einen Behindertenausweis zu beantragen – genau wie wir. In dem Jahr, in dem Lotta geboren wird, haben 365 Kinder unter einem Jahr einen Schwerbehindertenausweis aufgrund einer angeborenen Behinderung. Schaut man sich die entsprechende Zahl für Kinder unter fünf Jahre an, liegt sie schon bei 6881.
    Die Karawane, die alle paar Wochen in unserem Haus haltmacht, ist um einen Posten länger geworden. Therapeuten auf Hausbesuch, Reha-Techniker, Frühförderung. Jetzt sitzt alle drei Monate eine Mitarbeiterin der Pflegeberatung an unserem Wohnzimmertisch. »Fühlen Sie sich kompetent und sicher in der Pflegesituation, Frau Roth?«
    »Kaffee?«, frage ich.
    Sie schüttelt den Kopf. »Wo ist denn Ihre Tochter?«
    »Mittagsschlaf.«
    »Ich

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