Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
wiedererstandene Heiland und nur für eine halbe Stunde auf Erden. »Halt mich fest«, sage ich zu Harry, als der Chor »Stille Nacht« anstimmt. Ich nehme seine Hand. »Wer weiß, was ich sonst als Nächstes mache.«
21
»Jackpot«
Von Pflegestufen und einem Seestern
Ich halte die Luft an und zähle. Einen Tag ohne Krampf, zwei, drei, vier, fünf, sechs, eine Woche. Ist es vorbei?
März 2012. Die sechste Embo liegt hinter uns. Endlich. Wir haben Lotta so lange mit Antibiotika gefüttert, bis die Bronchitis weit genug abgeheilt war.
Mit jedem Tag ohne Krampf gewinnen wir an Tempo. Es ist, als gingen wir langsam los, eins, zwei, drei, wir werden schneller, vier, fünf, sechs, wir rennen, sieben, acht, wir rasen, neun, zehn, wir breiten die Arme aus – elf, wir heben ab. Wir fliegen. Alles wird klein unter uns, alles lassen wir hinter uns, die Embos, die Krämpfe, die durchwachten Nächte.
Keine Anfälle, kein Diazepam, rosige Wangen und offene Augen – jauchzet, frohlocket .
»Sieht sie nicht toll aus?«, frage ich Clara, als wir ihr mit dem Kinderwagen begegnen.
»Toll?«, sagt sie. »Ziemlich blass, oder?«
»Du hättest sie vorher sehen sollen.«
Das erste Stirnrunzeln fotografiere ich und schicke es per E-Mail an Harry ins Büro. Betreff: »Sie ist wieder da!«
Er antwortet: »Püppi, der Panzer.«
Ich wage es wieder, lange zu duschen oder die Wäsche in die Maschine im Keller zu stopfen. Ich lasse Lotta bei Ben oben im Wohnzimmer, für eine Minute, für zwei, für drei. Wie schnell man vergisst. Wie schnell man wieder so tut, als wäre alles normal. »Mama, komm schnell!« Ich lasse die Wäsche auf den Boden fallen und renne die Kellerstufen hinauf. »Komm schnell, die Lotta!«
»Ich komme«, rufe ich und rutsche mit einem Fuß ab. Ich stoße mir das Knie, stauche mir das Handgelenk beim Abstützen. Durch die Kellertür.
Ben steht neben ihrem Sitzsack. »Schnell! Sie lächelt, schau mal, Mama, wie sie lächelt.«
Dicke Grübchen. Auf, preiset die Tage .
Liegt es an der Embo, an dem neuen Medikament, das Dr. Waltz ein paar Wochen zuvor reingenommen hat? Oder daran, dass Lottas Bronchitis endlich abgeheilt ist? »Such dir was aus«, sagt Harry. »Ich tippe auf die Embo.«
»Das habt ihr noch nicht gemacht?« Nina am Telefon.
»Wir hatten zu viel mit Überleben zu tun«, antworte ich.
Sie: »Das wird nicht schön, das sage ich dir. Ich kenne einige, die das hinter sich haben, und es war genau wie bei mir: furchtbar.«
Wir haben eine Pflegestufe für Lotta beantragt. Der medizinische Dienst will einen Arzt vorbeischicken, der den Bedarf prüft.
»Hast du schon ein Pflegetagebuch geführt?«
»Ein was?«
»Oh je«, sagt Nina. »Jetzt hol dir mal einen Stift und ein Blatt Papier.« Die Pflegestufe richtet sich danach, wie viel Aufwand Lotta macht im Vergleich zu einem gesund entwickelten Kind im selben Alter. Gerechnet wird in Minuten. »Sabbert sie immer noch so viel?«
»Klar.«
»Gut, das gibt viele Punkte.« Jedes Mundabwischen kostet Zeit. »Ich habe die Pflegestufe beantragt, als Leon ein Jahr alt war. Vorher macht es keinen Sinn – am Anfang sind alle Babys Pflegefälle.«
»Und?«
»Der Arzt hat gesagt: Der kann ja lachen, was wollen Sie denn? Wir haben eine gekriegt, aber nur knapp.«
»Wenn Lotta kein Pflegefall ist, dann weiß ich nicht, wer dann«, sage ich.
»Stimmt. Aber trotzdem: Sei bloß nicht zu positiv. Nimm immer die höchste Anzahl.«
»Du meinst, ich soll lügen?«
»Nein, aber wenn Lotta sich zwei- bis dreimal am Tag übergibt, sagst du nicht zwei, sondern drei. Klar?«
»Ich will mir doch keine Sozialleistungen erschleichen, die uns nicht zustehen.«
»Davon gehen die sowieso aus, egal, was du sagst. Du wirst dich fühlen wie ein Sozialschmarotzer, wann immer du irgendwas beantragst, egal, ob das eine Pflegestufe ist oder irgendwelche anderen Zuschüsse. Auch wenn dir das tausendprozentig zusteht. Das ist einfach kein Zeitpunkt, um tapfer zu sein.«
»Kaffee?« Ich habe Lotta auf dem Arm. Heute Morgen habe ich kurz gezögert und dann doch die Küche aufgeräumt. Innerlich höre ich Nina schimpfen.
Die Ärztin schüttelt den Kopf. Kein Kaffee. Um die 50, graue Haare, sieht gar nicht so misstrauisch aus. Sieht eigentlich ganz nett aus. Sie hat sich am Wohnzimmertisch niedergelassen und neben Ben und seinem Puzzle ihre Papiere ausgebreitet. »Name?«, sagt sie. »Geboren am?« Ein Gespräch wie mit einem Formular. »Geburtsort?« Sie liest die Vorbefunde,
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