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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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»Hast du nicht gesagt, du kannst verstehen, warum manche ihr Kind ins Heim geben?«
    »Stimmt«, sage ich. »Vor ein paar Monaten. Wenn es einem besser geht, vergisst man, wie es sein kann.«
    Elf stationäre Kinderhospize gibt es zurzeit in Deutschland. Sie bieten nicht nur einen Raum zum Sterben, sondern vielen Familien auch Entlastung während des Lebens. Doch verzweifelt wirkte die Mutter des Mädchens nicht. Im Gegenteil: Sie sah glücklich aus dort auf dem Flur. Sie freute sich, da zu sein, mit ihrem Kind, neben mir auf den Plastikstühlen zu sitzen und sich zu unterhalten. Vielleicht tappe ich in dieselbe Falle wie viele um mich herum. Wenn sich etwas schrecklich anhört, muss es schrecklich sein. Hospiz statt Kindergarten. Und doch auch: Blümchenblusen und Lillifee. Warum nicht?

    Juni 2012. Die siebte Embo ist anders. Professor Brassel will zum ersten Mal bei Lotta Gefäßkleber verwenden. »Beim letzten Mal habe ich einen Basket aus den Coils gebaut, da muss ich jetzt nur noch den Kleber ...«
    »Professor Brassel, ich fürchte, ich habe immer noch nicht verstanden, was genau Sie da machen.«
    Er erklärt: Das Gefäß in Lottas Kopf ist schon voller Platinspiralen. Nun will er die Freiräume zwischen den Spiralen mit Kleber verschließen. »Das geht sehr viel schneller, allerdings muss man mit sehr viel Fingerspitzengefühl arbeiten. Es besteht immer die Gefahr, dass der Kleber zu weit schießt und Gefäße verschließt, die offen bleiben sollten. Gerade wenn das Blut so schnell durch die Adern schießt wie bei Ihrer Tochter. Jetzt allerdings haben wir den Basket aus Coils gebaut, gegen den Strom des Blutes an übrigens, das war sehr schwierig ...«
    »Wir vertrauen Ihnen«, unterbreche ich ihn.
    Was bleibt uns anderes übrig?

    Wir kommen in einen neuen Flur. »Ich wusste gar nicht, dass es hier so schöne Zimmer gibt!« Feldkamp strahlt und sagt: »Dieser Trakt ist schon fertig renoviert. Allerdings sind Sie hier weiter weg vom Schwesternzimmer. Aber Sie haben ja schon Erfahrung.« Ich habe sogar ein eigenes Bad. Ich mache ein Foto und schicke es an Harry.
    »Das Ritz Carlton«, schreibt Harry.
    »Wer braucht schon Paris?«, schreibe ich zurück.
    »Nicht Paris, aber ...?« lautet die nächste SMS.
    Ich schreibe zurück: »Jetzt lass uns erst mal die Embos machen.«
    Die Antwort lautet: »Klar.« Und ein paar Minuten später: »Entschuldigung.«
    Sollen wir ins Ausland umziehen, nur weil Harry dort einen Job angeboten bekommen hat, den er gerne hätte? Sollen wir nicht ins Ausland ziehen, nur wegen Lotta? Anstrengend ist es überall.

    Wir kaufen Lotta ein lila Kleid. Wir sitzen wieder in demselben Café. Es hilft nicht genug. Wir sitzen wieder zu früh auf der Intensiv. »Es wird immer schwerer, oder?«, sagt Harry. »Dabei müsste es leichter werden.«
    »Ich hoffe nur, es ist das letzte Mal.«
    »Sag das nicht. Das haben wir bei den letzten zwei Embos schon gesagt.«
    Als Professor Brassel später auf dem Zimmer sagt: »Es sind noch zwei kleine Adern übrig, aber ...«, umarme ich ihn.
    »Wir müssen das beobachten«, sagt Dr. Feldkamp.
    »Aber es könnte die letzte OP gewesen sein?«, frage ich.
    Harry und ich strahlen. Das Loch in Lottas Kopf ist so gut wie zu. »Kannst du dir das vorstellen – nie wieder Duisburg?«

    Lotta erwacht aus der Narkose und krampft. Jede Stunde, drei Minuten Krampf, übergeben, einschlafen. Aufwachen, krampfen, übergeben, einschlafen. Aufwachen, krampfen, übergeben, einschlafen. »Das kann doch nicht wahr sein«, flüstert Harry. »Das kann doch einfach nicht sein.«
    Ich halte Lottas Hand. »Das geht vorbei«, sage ich immer wieder. »Das geht vorbei.«
    Haben wir einmal zu oft in Lottas Gehirn eingegriffen?
    »Das ist die körperliche Reaktion auf den Gefäßkleber«, sagt Feldkamp. »Nun bleiben Sie mal ganz ruhig.«
    Ich muss Geduld haben. Das geht vorbei. Geduld. Immer Geduld. Atmen, sitzen, warten. Lottas Hand halten, nicht nachdenken, nicht grübeln, nur warten, atmen, warten, atmen, warten, atmen.
    Warten.
    Atmen.
    In dieser Nacht schlafe ich nicht. Lotta liegt neben mir im Bett, angeschlossen an den Infusionsständer, die Kurve auf dem Monitor zuckt. Zwei Stunden vergehen, drei Stunden, vier Stunden. Ich zähle wieder. Am nächsten Morgen strahle ich Feldkamp an und er sagt: »Ich habe doch gesagt, Sie müssen nur ein bisschen Geduld haben.«
    »Kennen Sie sich eigentlich auch mit Kinderkliniken im Ausland aus?«
    »Wieso – wollen Sie auswandern?«

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