Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
müsste sie einmal sehen.«
»Aber sie schläft.«
»Ich muss darauf bestehen.«
Als wir zwei neben dem Bett stehen, beugt sie sich über die schlafende Lotta. Sie betrachtet sie. Lange. Von ganz nahe. Ich schlage die Hand vor den Mund. »Sie schauen nach, ob sie noch lebt, oder?«
Die Mitarbeiterin legt den Zeigefinger vor den Mund. »Psst, Sie wecken noch Ihre Tochter.«
»Die müssen überprüfen, ob dein Kind in gutem Pflegezustand ist«, sagt Nina später am Telefon.
»Aber ich würde doch nie …«, sage ich. »Glauben die, ich würde mein Kind ...?«
»An diese Besuche gewöhnst du dich.«
»Klar. An was gewöhne ich mich nicht?«
Nina erzählt, dass Leon einen Kindergartenplatz gekriegt hat, in einer integrativen Einrichtung. »Wie sieht es eigentlich bei euch aus?«
»Schon drei Absagen.«
Wenn ich in den Kindergärten anrufe, höre ich: »Sie wird erst Ende November drei, die älteren Kinder müssen wir bevorzugen.« Oder: »Es gibt eben nur sehr wenige Plätze.« Oder: »Wir müssen auch auf die Zusammensetzung der Gruppe achten. Die Mischung muss stimmen.«
»Mischung« sagen sie und es klingt wie »Ihr Fall ist zu schwer«. Eine Mutter aus Lottas Spielgruppe bekommt für ihren Sohn für das gleiche Kindergartenjahr in einem anderen Viertel Kölns Plätze in vier Einrichtungen. »Willst du einen von meinen haben?«, fragt sie. Ihr Sohn ist jünger als Lotta. Er kann laufen und alleine essen. Es ist sicher Zufall. Oder ist gut für die Mischung, wer weniger Hilfe braucht?
Wir könnten uns auf Wartelisten setzen lassen. Wir könnten versuchen, uns einzuklagen. Ich schreibe einen Brief an die Stadt und beschwere mich bei der Frühförderstelle. Ich suche weiter.
Vor dem Büro von Dr. Waltz. Kontrolltermin. Lotta krampft seit sieben Wochen nicht mehr. In fünf Wochen steht die nächste Embo an, der kürzestmögliche Abstand. Wir wollen nicht warten, bis es ihr wieder schlechter geht. Lotta auf meinem Schoß, draußen auf dem Flur. Eine kleine Gruppe kommt herein. Ein Mädchen im Rollstuhl, der Kopf gestützt, die Hände verdreht. Die Mutter, höchstens Mitte 30, mit Blümchenbluse und offenem Blick. »Hallo!« Sie lächelt mich an. Daneben eine Frau, die ich auf den ersten Blick in den professionellen Sektor einordne. Auch ich habe manchmal solche Begleiter. Wenn ich zur Augenärztin fahre, sitzt jetzt immer Frau Schmidt von der Sehfrühförderung auf dem Beifahrersitz. Ich finde das schon lange nicht mehr seltsam.
»Hi!« Ich lächele zurück. Sie setzen sich neben uns. »Du hast ja schicke Räder!«, sage ich zu dem Mädchen.
»Lillifee«, sagt ihre Mutter.
Nach zwei Minuten Small Talk, wie alt (sechs), wie schlimm (sehr), sind wir beim Kern meines Problems: »Wie hast du das gemacht mit dem Kindergarten?«
»Die wollten uns nicht.«
»Wie – die wollten euch nicht?«
»Wir wohnen weit draußen. Bei uns im Ort gibt es nur einen integrativen Kindergarten und denen war Mia zu heiß.«
»Zu heiß?«
»Die Sonde«, sagt sie. »Die Anfälle.«
»Und dann?«
»Mia geht eben nicht in den Kindergarten.«
»Gar nicht?« Die Mutter schüttelt den Kopf. »Wie machst du das dann? Ich meine, willst du nicht mal ...?« Sie schaut mich an. »Ich frage nur, weil ich gerade nach einem Kindergarten suche.«
»Darf ich dich etwas fragen, das vielleicht komisch klingt?« Ich zucke die Achseln. »Ist deine Tochter lebenszeitverkürzend erkrankt?«
»Lebenszeit ... Nein, ich glaube nicht.«
»Dann hättest du sie zumindest im Hospiz abgeben können. Das mache ich alle paar Wochen, für ein paar Tage. Ich erhole mich und weiter geht’s.«
»Im Hospiz?«
»Das ist nicht so gruselig, wie es klingt«, sagt sie. »Das ist eigentlich sehr schön für Mia. Ohne diese Auszeiten könnte ich schon lange nicht mehr.«
»Hast du denn Hilfe? Macht dein Mann …?«
»Es gibt nur Mia und mich.«
Ich schweige. Ich habe kein Kindergarten-Problem. Ich habe überhaupt kein Problem.
»Warum hat sie sich nicht eingeklagt?«, wird Clara mich später fragen.
»Ich habe sie nicht gefragt.«
»Wusste sie nichts vom familienentlastenden Dienst?«, wird Nina fragen. »Da kommen Heilpädagogikstudenten vorbei und nehmen dir das Kind auch mal für ein paar Stunden ab.«
»Keine Ahnung.« Ich hoffe, dass es ihr die professionelle Begleiterin erzählt hat. Ich hoffe, dass die vielleicht sogar vom familien-entlastenden Dienst kam. »Kannst du dir das vorstellen – im Hospiz?«, frage ich Nina.
»Klar«, sagt sie.
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