Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
»Die Mischung muss stimmen«
Inklusion und Lottas bester Freund
Juli 2012. »Lotta – Baby?« Lotta wie »Looo-ta« mit Betonung auf dem O. Der Junge vor mir legt den Kopf schief.
»Nein, sie wird bald drei Jahre alt!« Ich halte drei Finger hoch.
»Siehst du, Kofi«, sagt die Erzieherin hinter ihm. »Die Lotta ist fast so alt wie du.«
Der Junge, ungläubig: »Lotta nicht Baby?«
Ich hocke mich hin und lasse Lotta auf meinen Knien sitzen. Jetzt sind sie und Kofi auf Augenhöhe. Er streichelt ihre Wange, sie zeigt ihm ein Grübchen. Was heißt »behindert« auf Französisch?
»Lotta süß«, sagt Kofi und beendet die Debatte.
Es ist unser erster Tag im Kindergarten. Kofi ist auch noch nicht lange dabei, seit drei Wochen ist er in Deutschland. »Papa Togo«, sagt er. »Mama Deutschland.«
»Alle Schuhe anziehen!«, ruft von hinten die Erzieherin. »Wir gehen auf den Spielplatz.«
Kofi bringt Lotta seine Gummistiefel. »Danke«, sage ich. »Aber zieh du die lieber selber an.«
Als wir rausgehen, greift er nach dem Reha-Buggy und schiebt los. Mit ernster Miene eilt er der Gruppe voran zum Spielplatz. Miss Lotta und ihr Chauffeur. Am Spielplatz angekommen, löst er Lottas Gurte und greift ihr unter die Arme. »Stopp, ich helfe dir!«, rufe ich.
Wir legen Lotta in den Sandkasten, für ihren Kopf bauen wir ein Kissen aus Sand. »Ich weiß nicht, ob Lotta das möchte«, sage ich zu Kofi.
Wird sie schreien? Wenn wir mit Ben auf dem Spielplatz sind, besteht Lotta auf meinem Schoß. Im Kinderwagen sitzen bleiben, im Sand liegen – das heißt Gezeter von der ersten Sekunde an. Jetzt ruht sie auf ihrem Sandkissen und hört Kofi zu. Er zeigt ihr alle Schaufeln und redet in afrikanisch geprägtem Französisch auf sie ein. Lotta reißt die Augen auf und sagt »oi, oi, oi«. »Sie macht erste Laute«, erzähle ich strahlend der Erzieherin neben mir. »Gestern zum ersten Mal.«
Um Kofi und Lotta verteilen sich die anderen Kinder. Zwei streiten sich um einen Bagger, drei wollen schaukeln, vier gehen auf Expedition in die Büsche. Von Lotta und Kofi halten sie Abstand, als lebten die zwei in ihrer eigenen Welt. »Looo’ta!« »Oi, oi, oi.«
Wir hatten uns bei sechs integrativen Kindergärten angemeldet. Genommen hat uns keiner. Ich habe weitergesucht. »Was ist eigentlich mit dem Gebäude, in dem der heilpädagogische Kindergarten war?«, habe ich eines Abends Harry gefragt.
»Heilpädagogisch?« Er blickt nicht von seiner Zeitung auf.
»Der Sonderkindergarten, der geschlossen wurde. Da rufe ich morgen mal an. Vielleicht kommt da ein neuer Kindergarten rein.«
Am Telefon. »Guten Tag, ich habe eine etwas seltsame Frage: Sind Sie vielleicht ein Kindergarten?« Ich höre zu. »Und wären Sie auch offen für behinderte Kinder?« Treffer, versenkt.
Abends erzähle ich Harry: »Die Leiterin hat gesagt: Meine Arme sind ganz weit offen.«
»Aber das ist doch kein integrativer Kindergarten, oder?«, fragt er. »Integrativ, inklusiv – ich verstehe das immer noch nicht.«
»Nein, das ist ein Regelkindergarten, ein ganz normaler. Aber auch so einer kann behinderte Kinder aufnehmen. Das ist allerdings freiwillig. Wenn die Inklusion konsequent umgesetzt wird, müssen das demnächst alle Regeleinrichtungen machen, ob Kindergärten oder Schulen. Dieser Kindergarten ist also seiner Zeit etwas voraus.«
»Ist das denn das Richtige für Lotta?«
Vor der Tür noch Farbeimer. Dahinter schon Kleiderhaken auf Kinderhöhe, mit Namen und Foto. »Melissa«, »Theo«, »Karim«, »Ida«, »Christabelle«. Eine Frau eilt mit ausgestreckter Hand auf Harry und mich zu. »Zora Müller«, stellt sie sich vor. Die Leiterin des Kindergartens. Rote Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, grauer Kapuzenpulli, grüne Chucks, höchstens zwei Jahre älter als ich. »Und du bist bestimmt Lotta.« Sie nimmt Lottas Hand und beugt sich runter, um ihr in die Augen zu sehen. »Hallo, Lotta!«
Nach einer halben Stunde sagen wir du zueinander. Der Kindergarten ist erst seit zwei Monaten geöffnet, noch sind viele Plätze frei. »Wir bieten viele U3-Plätze an, also für die unter Dreijährigen. Die haben ab nächstem Jahr ja auch einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz.« Träger ist ein Verein, den Zora gegründet hat. Die Kita, die sie davor geleitet hat, ist geschlossen worden. »Da haben wir uns schnell entschlossen, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen.«
Wir sitzen in Zoras Büro, neben uns eine junge Erzieherin mit einem kleinen
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