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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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Zeitpunkt«, sagt Harry.
    »Sag nicht, dass du wegfährst.«
    »Nicht ich. Wir.«
    Harry hat eine neue Position angeboten bekommen. Drei Jahre, Auslandszulagen, schöne Aufgaben, tolles Team. Schon vor Ewigkeiten hat er gesagt: Wenn – dann da. So lange die Kinder klein sind, habe ich damals gesagt. Dann können wir ihnen andere Länder zeigen, andere Kulturen, vielleicht können sie zweisprachig aufwachsen. »Vergiss es«, sage ich jetzt.
    »Das müssen wir nicht gleich entscheiden«, sagt er. »Wir haben bis Mitte nächsten Jahres Zeit.«
    »Das wird auch nichts ändern.«
    »Das weißt du doch gar nicht.«

    Die vier Wochen sind um. Nägel feilen, Haare kämmen, verabschieden. Wieder die A3 rauf, die Spieluhr im Koffer. Bevor wir die Klinik betreten, küsse ich Lotta auf den Kopf. »Jetzt ist es bald vorbei!« Die Ärztin horcht Lottas Lunge ab. Sechs Wochen Aufschub.

    Lotta übergibt sich zu oft. Sie trinkt zu wenig. Löffelweise Wasser, stundenlang. Sie nimmt ab. Es geht nicht mehr darum, Lotta zu fördern, ihren Zustand zu verbessern, es geht darum zu verhindern, dass es noch schlimmer kommt. Krämpfe, oft. Viel Diazepam. Über unserem Haus hängt ein Schatten. Lotta ist so leise, dass es uns allen in den Ohren dröhnt. Sie ist so blass, dass sie unsichtbar zu werden scheint. Eines Tages sagt Jodi: »Frau Roth, wie lange schaffen wir das noch?«
    Wie viel Leid kann man mit ansehen? Wie oft kann man in den Abgrund schauen, ohne selbst hinunterzufallen? Wie lange kann man sich an der Hoffnung festhalten, dass es wieder besser werden wird? Drei Monate, vier, fünf? Ist das noch ein Leben, das ich meiner Tochter wünschen kann?
    Dr. Waltz: »Frau Roth, haben Sie schon mal über eine Sonde nachgedacht?«
    »Eine Sonde?«
    »Wenn ich mir das mit dem Wasser und dem Löffel so anschaue ...«
    »Aber sie ist doch nicht dehydriert, oder?«
    »Nein, aber gut ist das nicht.«
    »Das wird wieder besser.«
    »Viele Eltern zögern sehr lange, bevor sie eine Magensonde akzeptieren. Und später sagen die meisten: Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte ich es eher gemacht. Das kann eine Familie sehr entlasten. Die Mahlzeiten wären wieder ein fröhliches Zusammensein und kein Stress. Auch für Lotta. Sie würde sich nicht mehr so oft verschlucken.«
    »Aber ...«
    »Wir würden zuerst eine Sonde durch die Nase legen und erst sehr viel später eine PEG-Sonde.«
    Neues Wort: Perkutane endoskopische Gastrostomie – PEG. Die PEG-Sonde ist ein künstlicher Zugang zum Magen, ein Plastikschlauch in Lottas weichem Bauch. »Nein.«
    »Denken Sie darüber nach.«
    »Das wird wieder. Und wenn es doch auch so geht. Nur weil es für mich anstrengend ist ...«
    »Auch das kann ein guter Grund für eine Sonde sein. Sie müssen auch an sich denken.«
    Nein. Ich habe die Sitzschale akzeptiert, den Reha-Buggy, die Medikamente, die Embos, das Diazepam. Ich weigere mich zu akzeptieren, dass Lotta ein Loch im Bauch braucht.

    Melanie auf der Straße. »Na, wie geht es euch?«
    »Muss ja«, sage ich. »Und euch?«
    »So langsam wieder besser.«
    »Wieso?«
    Sie senkt die Stimme. »Noah hat Schuppenflechte.« Sie erzählt und erzählt und erzählt. Das Kratzen. Das Weinen. Die Sorgen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das ist. Ich mache jetzt einen Kurs, um zu lernen, wie man damit am besten lebt.«
    »Wie schrecklich«, sage ich. »Dagegen hat Lotta ja nur einen Schnupfen.«
    Ich lasse sie stehen.
    Warum bin ich so gemein? Darf hier keiner leiden außer mir? Habe ich ein Abo auf die Auszeichnung »Schlimmstes Schicksal des Jahres«? Auch wenn mir Schuppenflechte im Vergleich zu Epilepsie harmlos vorkommt – für Melanie ist sie trotzdem schlimm. Stört es mich, dass sie darüber redet? Auch ich könnte erzählen, wie es mir wirklich geht, statt »Muss ja« zu sagen. Auch ich könnte diese gesenkte Stimme haben, diese besorgte Miene. Warum nicht? In Lottas Spielgruppe macht das keiner. Keiner jammert. Viele sagen »Muss ja«. Oder: »Das ist jetzt eben so.« Warum?
    Vielleicht muss man sich Selbstmitleid leisten können. Wer in einer Pfütze voll Kummer sitzt, kann sich darin wälzen und suhlen. Wer im tiefen Meer schwimmt, und kein Land in Sicht, der will nicht darüber nachdenken, wie tief es nach unten geht, wie kalt das Wasser, wie hoch die Wellen, wie schwer die Arme. Der muss sich darauf konzentrieren, den Kopf oben zu halten. Wenn ich mir Mitgefühl für mich selbst nicht leisten kann, habe ich auch keines mehr für Melanie

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