Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ehrbaren Glükkes aufzuraffen und in einem ländlich tüchtigen Mann den Vater ihrer Kinder zu lieben. Der Erinnerung zu leben ist eine Sache des Alters und des Feierabends nach vollbrachtem Tagwerk. In der Jugend damit zu beginnen, das ist der Tod.«
»Sie können versichert sein«, erwiderte August, »daß, was Sie von Resolutheit sagen, ganz nach dem Sinn meines Vaters ist, der ja in diesem Zusammenhange bemerkt, daß man Verletzungen und Krankheiten, wozu denn wohl auch die Schuld und die peinliche Erinnerung gehören mögen, in der Jugend rasch überwindet. Er führt die körperlichen Übungen, Reiten und Fechten und Schlittschuhlaufen als dienliche Hilfsmittel zu frischem Ermannen an. Aber die glücklichste Handhabe, mit dem Beschwerlichen für die eigene Person fertig zu werden und es zur Absolution zu bringen, bietet ja doch gewiß das dichterische Talent, die poetische Beichte, worin die Erinnerung sich vergeistigt, sich ins Menschlich-Allgemeine befreit und zum bleibend bewunderten Werke wird.«
Der junge Mann hatte die zehn Fingerspitzen an einander gelehnt und bewegte die so sich berührenden Hände, bei angezogenen Ellenbogen, mechanisch vor der Brust hin und her, während er sprach. Das gezwungene Lächeln seines Mundes stand im Widerspruch zu den Falten zwischen seinen Brauen, über denen die Stirn sich flockig gerötet hatte.
»Es ist ein eigen Ding«, fuhr er fort, »um die Erinnerung; ich habe zuweilen darüber nachgesonnen, da ja die angeborene Nähe eines solchen Wesens, wie mein Vater es ist, zu mancherlei gemäßem und ungemäßem Nachdenken Anlaß gibt. Die Erinnerung spielt gewiß eine wichtige Rolle im Werk und {249} Leben des Dichters, welche so weitgehend eins sind, daß man genau genommen nur eines zu nennen brauchte und von dem Werke als seinem Leben, von dem Leben aber als seinem Werke sprechen könnte. Nicht nur das Werk ist von der Erinnerung bestimmt und gestempelt, und nicht nur im ›Faust‹, in den Marieen des ›Goetz‹ und des ›Clavigo‹ und in den schlechten Figuren, die ihre beiden Liebhaber machen, tut sie sich wiederholentlich als fixe Idee hervor. Sie wird, wenn ich recht sehe, zur fixen Idee, die immer sich wiederholen will, auch des Lebens; ihr Gegenstand, als zum Exempel die Resignation, die schmerzliche Entsagung oder das, was der beichtende Dichter selbst als verlassende Untreue, ja Verrat im Bilde geißelt, ist das Anfängliche, Entscheidende und Schicksalbestimmende, es wird, wenn ich mich so ausdrücken darf, zum Generalmotiv und Prägemuster des Lebens und alles weitere Verzichten, Entsagen und Resignieren ist nur Folge davon, wiederholende Erinnerung daran. O, ich habe dem öfters nachgesonnen, und mein Gemüt weitete sich vor Schrecken – es gibt auch solche Schrecken, die die Seele erweitern –, wenn ich bedachte, daß der große Dichter ein Herrscher ist, dessen Schicksal, dessen Werk- und Lebensentscheidungen weit übers Persönliche hinauswirken und die Bildung, den Charakter, die Zukunft der Nation bestimmen. Da wurde mir ängstlich-groß zu Sinn bei dem Bilde, das wir alle nimmer vergessen, ob wir schon nicht dabei gewesen, sondern zwei Menschen allein es verhängnisvoll darstellten, – wie der Abreitende dem Mädchen, das ihn von ganzer Seele liebt, und von dem sein Dämon ihm die grausame Trennung gebietet, – wie er der Tochter des Volkes noch vom Pferde herab die Hand reicht und ihre Augen voll Tränen stehen. Das sind Tränen, Madame – auch wenn mir die Seele am schreckhaft-weitesten ist, denke ich den Sinn dieser Tränen nicht aus.«
»Für mein Teil«, versetzte Charlotte, »sage ich mir mit etwas Ungeduld, daß dieses gute Ding, die Tochter des Volks, des {250} Geliebten eben nur dann würdig gewesen wäre, wenn sie hinlängliche Resolutheit besessen hätte, sich ein rechtes Leben zu zimmern, da er fort war, statt sich dem Allerschrecklichsten anheimzugeben, was da unter dem Himmel ist, nämlich der Verkümmerung. Mein Freund, Verkümmerung ist das Schrecklichste. Es danke Gott, wer sie zu meiden wußte, wenn aber nicht jedes sittliche Urteil schon Überhebung sein soll, dürfen wir denjenigen tadeln, der sich ihr überlassen. Ich höre Sie von Entsagung sprechen – nun, die Kleine da unter ihrem Hügel wußte schlecht zu entsagen, für sie war Entsagung – Verkümmerung und nichts weiter.«
»Die beiden«, sagte der junge Goethe, indem er die zehn Fingerspitzen von einander entfernte und sie wieder zusammentat, »die beiden
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