Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wohnen wohl nahe beieinander, und es möchte überall schwer sein, sie ganz von einander entfernt zu halten in Leben und Werk. Mein Nachsinnen betraf zuweilen auch dies, wenn nämlich der Sinn jener Thränen mir die Seele schreckhaft ausdehnte, – es betraf – ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, mich mitzuteilen – das Wirkliche, das wir kennen, so, wie es geworden ist, und das Mögliche, das wir nicht kennen, sondern nur ahnden können – mit einer Trauer zuweilen, die wir aus überwältigendem Respekt vor dem Wirklichen uns und anderen verhehlen und ins Unterste unseres Herzens verweisen. Was ist denn auch das Mögliche gegen das Wirkliche, und wer will es wagen, ein Wort einzulegen für jenes, da er Gefahr läuft, die Ehrfurcht vor diesem dadurch zu verletzen! Und doch scheint mir hier öfters eine Art von Ungerechtigkeit zu walten, erklärlich aus der Tatsache – o ja, man kann hier wohl von Tatsachen sprechen! –, daß das Wirkliche allen Raum einnimmt und alle Bewunderung auf sich zieht, da das Mögliche, als nicht geworden, nur ein Schemen ist und eine Ahndung des ›Wenn nun aber‹. Wie muß man nicht fürchten, mit derlei ›Wenn nun aber‹ die Ehrfurcht vor dem Wirklichen {251} zu verletzen, als welche ja zu einem guten Teil auf der Einsicht beruht, daß all Werk und Leben von Natur ein Produkt der Entsagung ist. Aber daß es das Mögliche gibt, wenn auch nur als Tatsache unserer Ahndung und Sehnsucht, als ›Wie nun erst‹ und als flüsternder Inbegriff dessen, was allenfalls hätte sein können, das ist das Wahrzeichen der Verkümmerung.«
»Ich bin und bleibe«, antwortete Charlotte mit abweisendem Kopfschütteln, »für Resolutheit und dafür, daß man sich rüstig ans Wirkliche halte, das Mögliche aber auf sich beruhen lasse.«
»Da ich die Ehre habe, hier mit Ihnen zu sitzen«, erwiderte der Kammer-Rat, »will es mir nicht ganz gelingen zu glauben, daß nicht auch Sie die Neigung kennen sollten, sich nach dem Möglichen umzusehen. Sie ist so begreiflich, dünkt mich, diese Neigung, denn gerade die Großheit des Wirklichen und Gewordenen ist es, die uns verführt, auch noch dem Verkümmert-Möglichen nachzuspekulieren. Das Wirkliche bietet große Dinge, natürlich, wie sollte es nicht, bei solchen Potenzen – da ging es auf alle Weise. Es ging auch so, und zwar herrlich genug, es war auch aus der Entsagung und der Untreue etwas zu machen. Doch wie nun erst, fragt sich der Mensch – und fragt sich in Anbetracht der herrscherlich prägenden Bedeutung von Werk und Leben für alles Leben und alle Zukunft mit Recht danach – was hätte erst werden können und wieviel glücklicher wären vielleicht wir alle geworden, wenn die Idee des Verzichtes nicht maßgebend gewesen, das frühe Trennungsbild nicht gewesen wäre mit der Hand vom Pferde herunter und den unvergeßlichen Abschiedsthränen. Es ist ja nur darum und geschah im Zusammenhange damit, daß ich mich fragte, ob Vater zu Karlsruh vielleicht des nahen, noch ziemlich frischen Hügels im Badischen gedacht habe.«
»Man muß«, sagte Charlotte, »den Hochsinn schätzen, der sich des Möglichen annimmt gegen das Wirkliche, so sehr es – und gerade weil es so sehr – im Vorteil ist gegen jenes. Wir {252} werden es wohl eine Frage müssen bleiben lassen, welchem von beiden der sittliche Vorrang gebührt: der Resolutheit oder der Hochsinnigkeit. Leicht könnte da auch wieder Ungerechtigkeit unterlaufen, denn das Hochsinnige hat soviel Einnehmendes, da doch vielleicht Resolutheit die reifere sittliche Stufe ist. Aber was rede ich? Es fließt mir heute so zu. Im Ganzen ist es der Frauen Teil, sich bloß zu verwundern, was so ein Mann nicht alles, alles denken kann. Sie aber könnten mein Sohn sein, den Jahren nach, und eine tapfere Mutter läßt nicht ihren sich mühenden Sohn im Stich. Daher meine Redseligkeit, die am Ende gar wider das Sittsam-Weibliche verstößt. Wollen wir nun aber nicht doch dem Möglichen Frieden gönnen unter seinem Hügel und uns wieder dem Wirklichen zuwenden, will sagen: der erfrischenden Reise Ihres Vaters am Rheine und Maine? Ich hörte gern noch mehr von der Gerbermühle; ist sie doch der Ort, wo Goethe die Bekanntschaft zweier meiner Kinder machte.«
»Leider weiß ich von dieser Begegnung nichts zu berichten«, erwiderte August; »dagegen weiß ich, daß der Aufenthalt, wie sich das ganz selten nur im Leben ereignen will, eine vollkommene Wiederholung, ja noch eine Steigerung des Wohlseins
Weitere Kostenlose Bücher