Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ich höre, wie ich da sitze, zum ersten Mal davon. Durchaus hat der Alte sie mir – hat mir der Meister das Dokument unterschlagen. Ich nehme an, daß er es vergessen hat …«
»Das glaube ich nicht«, sagte Charlotte. »So etwas vergißt man nicht. ›Mit ihr nach fernern, verhülltern Seligkeiten der Welt zu ahnden‹ – das hat er bestimmt so wenig wie ich vergessen.«
»Offenbar«, eiferte der Doktor, »ist es reich an Beziehungen zum Werther und den ihm zum Grunde liegenden Erlebnissen. Verehrteste, das ist eine Sache von größter Wichtigkeit! Besitzen Sie das Blatt? Man muß es ausforschen, muß es der Philologie zugänglich machen …«
{113} »Es sollte mich ehren«, versetzte Charlotte, »der Wissenschaft mit einem Hinweis gedient zu haben, wiewohl ich mir sagen darf, daß ich es kaum nötig habe, mir noch dergleichen Einzelverdienste um sie zu erwerben.«
»Sehr wahr! Sehr wahr!«
»Ich bin nicht im Besitz der Juden-Rezension«, fuhr sie fort. »Darin muß ich Sie enttäuschen. Er gab sie mir seinerzeit eben nur zu lesen und legte Gewicht darauf, daß ich sie unter seinen Augen läse, was ich verweigert hätte, wäre ich mir des Widerstreites vermutend gewesen, in den dabei meine Bescheidenheit mit meinem Scharfblick geraten würde. Da ich ihm das Druckblatt zurückgab, ohne ihn anzusehen, weiß ich nicht, was für ein Gesicht er aufgesetzt hatte. ›Gefällt es Ihnen?‹ fragte er mit verhaltener Stimme. – ›Der Jude wird wenig erbaut sein‹, gab ich mit Kühle zurück. – ›Aber sie, Lottchen‹, drängte er, ›ist sie selber erbaut?‹ – ›Mein Gemüt ist im Gleichen‹, versetzte ich. – ›O, wäre auch das meine es noch!‹ rief er aus, alsob nicht die Recension allein schon genügt und es eines solchen Rufs noch bedurft hätte, um mich zu lehren, daß der Arm um Kestners Schulter vergessen lag und alles Leben in den Augen versammelt war, mit denen er anschaute, was Kestnern gehörte und was sich für ihn allein, unterm wärmenden, weckenden Blick seiner Liebe an mir hervorgetan. Ja, was ich war und was an mir war und was ich wohl den Liebreiz nennen muß meiner neunzehn Jahre, gehörte dem Guten und war unsern redlichen Lebensabsichten geweiht, es blühte nicht für ›verhülltere Seligkeiten‹ und irgendwelche ›unsterblich webende Liebe‹, durchaus nicht. Aber Sie werden verstehen, Doktor, und die Welt, so hoffe ich, wird es verstehen, daß ein Mädchen sich freut und es genießt, wenn nicht Einer nur ihre bräutliche Blüte sieht, nicht nur der, dem sie gilt und der sie, möchte ich sagen, hervorgerufen, sondern wenn auch Andere, Dritte dafür Augen haben, denn das bestätigt uns ja unsern Wert, uns und dem, der dar {114} über gebietet, – wie es mich denn freute, meinen guten Lebensverbündeten sich treulich freuen zu sehen an meinen Erfolgen bei anderen, und besonders bei dem besonderen, genialischen Freunde, den er bewunderte und dem er vertraute wie mir – oder, besser gesagt, etwas anders als mir, auf etwas weniger ehrenvolle Weise; denn mir vertraute er, weil er meiner Vernunft gewiß war und annahm, ich wisse, was ich wollte, jenem aber gerade darum, weil er das offenkundig ganz und garnicht wußte, sondern verworren und ziellos ins Blaue liebte, als ein Poet. Kurzum, sehen Sie, Doktor! Kestner vertraute mir, weil er mich ernst nahm, jenem aber vertraute er, weil er ihn nicht ernst nahm, obgleich er ihn doch so sehr bewunderte ob seines Glanzes und seines Genius und Mitleid hatte mit den Leiden, die seine ziellose Poetenliebe ihm bereitete. Mitleid hatte auch ich mit ihm, weil er so litt um meinetwillen und aus guter Freundschaft in solche Verwirrung geraten war, aber es kränkte mich auch um seinetwillen, daß Kestner ihn nicht ernst nahm und ihm auf eine Weise vertraute, die ihm nicht gerade zur Ehre gereichte, weswegen mir oft das Gewissen schlug; denn ich fühlte, es sei ein Raub an meinem Guten, daß ich mich in die Seele des Freundes hinein gekränkt fühlte durch die Art von Vertrauen, das er ihm bezeigte, obgleich dies Vertrauen mich auch wieder beruhigte und es mir erlaubte, ein Auge zuzudrücken und fünf gerade sein zu lassen, wenn ich sah, wie die gute Freundschaft des Dritten bedenklich ausartete und er den Arm vergaß um des Freundes Schulter. Verstehen Sie das wohl, Doktor, und ist Ihnen durchsichtig, daß das Kränkungsgefühl schon ein Zeichen war meiner eigenen Entfremdung von Pflicht und Vernunft, und daß Kestners Vertrauen und
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