Louisiana-Trilogie 1 - Tiefer Süden
mit den Silberbechern und all den anderen Sachen fortlaufen sollen?
Angelique öffnete die Tür, trat dann nach außen und schloß sie wieder.
Dolores blieb an der Schwelle stehen. Die Hände hatte sie vor dem Rode gefaltet. Ihr gedrucktes Musselinkleid war schon so oft gewaschen worden, daß das Blumenmuster ganz verblaßt war. Auch ihr Hut sah alt und abgetragen aus, und das Band, das ihn hielt, hatte ausgeblichene Falten. Kleine Schweißtropfen standen um ihre Lippen.
Judith ging auf sie zu. »Komm doch herein, Dolores! Warum hast du dem Jungen nicht gleich gesagt, wer du bist? Dann hättest du doch nicht warten müssen. Wir haben ihn gekauft, nachdem du voriges Jahr fortgegangen warst, deshalb kannte er dich nicht.«
Dolores lächelte so sonderbar wie früher. »Hast du wirklich nichts dagegen, daß ich gekommen bin, Judith?«
»Aber nicht im geringsten! Ich habe schon so oft darüber nachgedacht, wo du wohl sein könntest. Setz dich doch, bitte!«
Dolores nahm einen Stuhl. Sie spielte mit dem Ende ihres Tuches, dann schaute sie auf und fragte unvermittelt: »Judith, wie geht es meinem Kind?«
»Roger geht es sehr gut, Dolores.« Judith fühlte sich fast ebenso schuldig, als ob sie selbst ihr das Kind genommen hätte. »Er ist kaum krank gewesen. Nur als er die Zähne bekam, war es etwas unangenehm. Es wird sehr gut für ihn gesorgt.«
»Sicher kann er jetzt schon laufen?« fragte Dolores atemlos. »Und sprechen?«
»Ach ja, er watschelt schon herum, und ein paar Worte bringt er auch schon heraus.«
»Zum Beispiel – Vater?«
Judith konnte darauf nicht antworten, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob sie ein Stück Watte im Hals hätte. Sie legte die Arme um Dolores und rief fast schluchzend: »Ach, meine liebe Dolores, ich bin so traurig, daß es so gekommen ist, aber ich kann nichts daran ändern. Caleb glaubt, das sei das Richtige dem Kind gegenüber, und ich darf mich nicht einmischen. Aber es tut mir furchtbar leid.«
Dolores hielt sie fest umschlungen. »Willst du wirklich gut zu mir sein? Manchmal habe ich dich nicht leiden mögen, aber du warst immer freundlich, Judith. Was bekommt Roger denn zu essen?«
»Milch und weichgekochte Eier, Reissuppen und ähnliche leichte Sachen.«
»Kann er schon einen Löffel halten?«
»Nein. Manchmal versucht er es, aber dann verschüttet er gewöhnlich das Essen.«
»Wem sieht er denn ähnlich?«
Judith drückte Dolores wieder an sich. »Er sieht mehr aus wie wir, liebes Kind. Er hat die goldgelben Sheramyaugen und hellbraunes Haar wie wir. Aber seine Nase ist der deinen ähnlich.«
»Er muß sehr schön aussehen«, sagte Dolores leise.
Judith setzte sich nieder und hielt die Hände ihrer Schwägerin. Sie erzählte ihr alles von Roger, was ihr nur einfiel: wie er den ersten Zahn bekommen hatte, wie er das erste Wort sprach, wie sie ihn angezogen und alles, was er gesagt und getan hatte. Dolores hörte ihr mit offenem Mund und großen Augen zu.
»Du bist ganz sicher, daß sie niemals schlecht zu ihm sind, Judith?« fragte sie schließlich.
»Schlecht? Nein, sein Vater verwöhnt ihn entsetzlich und streichelt ihn beinahe zu Tode!«
»Siehst du ihn oft?«
»O ja, er kommt häufig herüber und spielt mit David und Christoph.«
»Wie groß ist Roger jetzt?«
»Ungefähr so.« Judith zeigte die Größe vom Boden mit der Hand.
Dolores biß sich auf die Lippe und senkte den Blick. »Ich dachte, ich könnte ihn vergessen, aber manchmal fehlt er mir furchtbar. Wenn ich einen kleinen Jungen sehe, wünsche ich immer, er gehörte mir. Ich habe noch ein Kind bekommen«, fügte sie unvermittelt hinzu.
»Du hast ein anderes Kind? Das freut mich«, sagte Judith. Sie meinte es auch aufrichtig, obwohl es ihr sonderbar vorkam, daß Dolores so offen darüber sprach.
»Ja. Ein kleines Mädchen. Aber trotzdem wird der Schmerz um Roger nicht leichter.« Dolores fuhr mit der Spitze ihres Schuhs einen Riß im Fußboden entlang. »Hältst du mich für sehr schlecht, weil ich noch ein Kind habe?« fragte sie nach einer kurzen Pause.
»Aber nein! Es ist doch so leicht zu verstehen, daß du gern eins haben wolltest.«
»Aber ich wollte es nicht.« Dolores lachte traurig und legte kleine Falten in die Manschette ihres Ärmels. »Ich wußte nicht, ob ich es dir sagen sollte, denn du wirst es sicher Caleb erzählen –«
»Nein, das tue ich nicht, wenn du es nicht willst –«
»Ach, es kommt ja nicht darauf an. Er glaubt sowieso, daß ich nicht schlechter
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