Louisiana-Trilogie 2 - Die noble Straße
nicht, darüber nachzudenken. Der Schmerz und die Wut, verlassen zu sein, ließen ohnehin mit den Wochen nach. Aus Erfahrung wußte sie, daß hundert Dollar schnell dahinschwinden, wenn Miete und Mittag- und Abendessen davon bestritten werden müssen, ohne daß für Nachschub gesorgt ist. Sie hatte sich nach Arbeit umgesehen. Sie hatte von je gearbeitet und war auch jetzt noch dazu fähig. Vielleicht hatte sie es nicht einmal nötig. Sie verfügte über einen ganzen Schrank voller schönster Garderoben; sie sah überhaupt nicht übel aus. Und manch einer der Männer aus dem Gerichtsgebäude hatte Gilday um sie beneidet –.
Sie war gerade drauf und dran, sich für diesen Weg zu entschließen, als ihr plötzlich der Himmel einstürzte und all ihre Pläne unter sich begrub: sie bekam ein Kind!
Zuerst wollte sie es nicht glauben. Ein Jahr hatte sie mit Gilday zusammen gelebt und sich anfangs gefürchtet; aber die Zeit war glatt dahingeflogen, und Corrie May hatte die Furcht vergessen. Nun sollte sie also ein Kind gebären, jetzt, wo sie auf der Straße saß und Gilday sein Heil in der Flucht gesucht hatte –!
Sie besaß viele Freunde, oder meinte es wenigstens. Sie hatten mit Vergnügen auf ihren Gesellschaften getanzt und getrunken. Aber jetzt war es aus mit den Gesellschaften und mit den Freundschaften auch. Es kümmerte sich keiner darum, ob irgendeine Corrie May lebendig war oder tot. Und die alten Freunde vom Rattletrap Square – die meisten hatten selber nichts zu essen; als Corrie May sie besuchte, schien sie in jedem zweiten Blick die Worte zu lesen: Geschieht dir ganz recht! Sie hatte vom Rattletrap nichts wissen wollen, als sie in Samt und Seide ging; mochte sie jetzt der Teufel holen!
Auch ihre vielen schönen Kleider ließen sich kaum zu Geld machen; kein Mensch wußte etwas anzufangen mit dem modischen Plunder; die Zeiten waren zu schlecht dazu. Und ihr Schmuck – nichts als Prahlerei und gewöhnliches Glas, wenn man näher zusah.
Sie gab ihr bisheriges Zimmer auf und bezog eine schäbige Kammer, die weniger kostete. Als die winterlichen Regen rieselten und die Nebel durch jede Spalte krochen, waren selbst die dicksten Decken und Tücher nicht mehr imstande, sie des Nachts zu wärmen. Sie drehte jeden Cent dreimal um, ehe sie ihn ausgab; sie kaufte sich nichts mehr zu essen, bis sie schließlich so fürchterlichen Hunger bekam, daß sie der Versuchung nicht länger widerstehen konnte. Sie schlang das minderwertige Zeug gierig in sich hinein; es wurde ihr schlecht wie noch nie in ihrem Leben. Ihre Haut bekam ein seltsam teigiges Ansehen; dunkle Säckchen bildeten sich unter ihren Augen wie bei einer alten Frau; die Gürtel ihrer Kleider ließen sich nicht mehr schließen. Wenn sie ausgehen mußte, so hüllte sie sich in ihren Mantel, so gut es ging, um ihre Figur zu verbergen.
In diesen kalten Nächten, wenn sie vor lauter Nebel von ihrem zerbrochenen Fenster aus kaum die andere Straßenseite erkennen konnte, dann sagte sie sich mehr als einmal, was für ein Dummkopf mit Fransen sie gewesen war: was Kummer und Sorge bedeuteten, das erfuhr sie erst jetzt, während sie damals bei gesundem Leibe stets das gesunde Selbstvertrauen hatte, zu jeder Arbeit fähig zu sein; dies Gefühl der Sicherheit war ihr vergangen. Sie fühlte sich krank, so krank, daß sie sich endlose Tage auf ihrem Bette wälzte – es wies keine Laken auf und keine Bezüge – und zu sterben meinte vor Übelkeit und Schwäche; doch es starb sich nicht so schnell. Dann schleppte sie sich ins Freie; vielleicht fand sich eine Stelle, wo sie für ein paar Kupfer ein Mahl von roten Bohnen erstehen konnte. Dann aß sie tagelang überhaupt nichts mehr. Je weniger sie aß, desto dicker wurde sie.
So bleib' ich eben, dachte sie, auf dieser verdreckten Matratze liegen und gebäre mein Kind ganz für mich allein. Gott mag wissen, was dann mit mir passiert. Vielleicht fand das Kind bei der Geburt den Tod; es sollte ihr gleich sein; aber sie erschauerte vor der Möglichkeit, daß auch sie selber sterben konnte. Sie wollte noch nicht sterben. Trotz all der Nackenschläge, die das Schicksal ihr versetzt hatte – sterben wollte sie nicht!
An einem Morgen im April klopfte es an ihre Zimmertür. Die Frau, der das Haus gehörte, trat ins Zimmer, ohne Corrie Mays Antwort abzuwarten: die Miete wäre nun schon drei Wochen überfällig; wie es damit wäre? Corrie May setzte sich auf und schüttelte verstockt den Kopf. »Ich habe kein Geld mehr«,
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