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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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läßt er sich in seinem Zimmer bedienen. Er trinkt guten Wein und ißt gute Speisen.«
    »Das ist's«, folgerte Herr von Guersaint lustig, »er wird gestern abend zuviel gegessen haben.«
    Pierre hatte neugierig zugehört.
    »Und auf dieser Seite, auf der Seite neben mir«, fragte er, »wohnen da nicht zwei Damen mit einem Herrn und einem Knaben, der an einer Krücke geht?«
    »Ja, Herr Abbé! Ich kenne sie. Die Tante, Frau Chaise, hat das eine der zwei Zimmer genommen, während Herr und Frau Vigneron mit ihrem Sohn Gustave sich im andern zusammendrängen mußten. Es ist das zweite Jahr, daß sie kommen. Oh, das sind gleichfalls sehr wohlhabende Leute!«
    Während der Nacht hatte Pierre in der Tat die Stimme des Herrn Vigneron, den die Hitze belästigen mußte, zu erkennen geglaubt. Da das Mädchen sich einmal dem Schwatzen überlassen hatte, so gab sie auch die anderen Mieter des Ganges an: links wohnten ein Priester, eine Mutter mit ihren drei Töchtern und ein altes Ehepaar; rechter Hand ein anderer einzelner Herr, eine junge einzelne Dame und noch eine ganze Familie mit fünf kleinen Kindern. Das Hotel war überfüllt bis unters Dach. Die Dienstmädchen, die ihre Kammern den Gästen überlassen hatten, schliefen alle zusammen in der Waschküche. Die letzte Nacht hatte man Feldbetten bis auf die Treppenflure hinaus gestellt. Ein ehrenwerter Geistlicher hatte sich sogar genötigt gesehen, auf einem Billard zu schlafen.
    Als das Mädchen sich endlich zurückgezogen und die zwei Männer ihre Schokolade getrunken hatten, ging Herr von Guersaint in sein Zimmer, um sich aufs neue die Hände zu waschen, denn er hielt sorgfältig auf seine Person. Pierre trat einen Augenblick auf den engen Balkon. Alle Zimmer des dritten Stockwerks auf dieser Seite des Hotels waren mit einem Balkon versehen, der eine Brustlehne aus geschnitztem Holz besaß. Aber er wurde aufs äußerste überrascht. Auf dem nächsten Balkon, dem, der zu dem Zimmer gehörte, das der Herr ganz allein einnahm, sah er, wie eine Frau ihren Kopf weit zur Tür herausstreckte, er hatte Frau Volmar erkannt. Ja, sie war es, mit ihrem langen Gesicht, ihren feinen, gespannten Zügen und ihren herrlichen Augen, die glühenden Kohlen glichen. Sie fuhr auf, als sie ihn erkannte. Er selbst hatte sich, sehr verlegen und tief betrübt, sie so zu beunruhigen, in Eile zurückgezogen. Da ging ihm plötzlich das volle Verständnis für alles auf: der Herr hatte nur dieses Zimmer mieten können und verbarg darin vor allen Augen seine Geliebte, indem er sie, solange aufgeräumt wurde, im Schrank einschloß. Sie verzehrten gemeinschaftlich die Gerichte, die man ihm heraufbrachte, und beide tranken aus dem nämlichen Glas, auch die Geräusche während der Nacht fanden damit eine Erklärung. Auf diese Weise verflossen für sie im Innern dieses abgesperrten Zimmers drei Tage Haft und Leidenschaft. Ohne Zweifel hatte sie nach beendigtem Aufräumen es gewagt, den Schrank von innen wieder zu öffnen, den Kopf aus dem Fenster zu strecken und in die Straße hinabzuschauen, um zu sehen, ob ihr Freund nicht zurückkäme. Deshalb also hatte man sie nicht wieder im Hospital gesehen, wo die kleine Frau Desagneaux fortwährend nach ihr fragte!
    Pierre stand unbeweglich, sein Herz schnürte sich zusammen, und er versank in eine tiefe Träumerei, indem er über das Leben dieser Frau nachdachte, die er kannte, über die Marter ihres ehelichen Lebens in Paris zwischen einer rohen Schwiegermutter und einem unwürdigen Gatten, dann über diese drei einzigen Tage völliger Freiheit im Jahr und das ungestüme Aufflammen der Liebesglut unter dem Vorwand, in Lourdes Gott dienen zu wollen. Tränen, die er sich selbst nicht erklären konnte, Tränen, die aus der innersten Tiefe seines Wesens, seiner freiwilligen Keuschheit aufstiegen, traten ihm in die Augen, und er fühlte sich grenzenlos traurig.
    »Nun, sind wir so weit?« rief Herr von Guersaint fröhlich, indem er mit Handschuhen und in seinem Rock aus grauem Tuch wieder erschien.
    »Ja, ja, wir gehen«, sagte Pierre, der sich umdrehte, um die Augen zu trocknen.
    Als sie hinaustraten, hörten sie links eine fette Stimme, in der sie die des Herrn Vigneron erkannten, der eben dabei war, die Morgengebete ganz laut herzusagen. Nun aber fesselte eine Begegnung ihre Aufmerksamkeit: als sie den Gang entlang schritten, kreuzten sie einen Herrn von vierzig Jahren. Er war stark untersetzt, sein Gesicht von einem regelmäßigen Backenbart eingerahmt. Übrigens

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