Lourdes
neigte er sich nach vorne und ging so schnell vorüber, daß sie seine Züge nicht unterscheiden konnten. In der Hand trug er ein sorgfältig eingewickeltes Paket. Er steckte den Schlüssel ins Schloß, verschloß die Tür wieder und verschwand geräuschlos wie ein Schatten.
Herr von Guersaint hatte sich umgedreht.
»Ach!« sagte er, »das ist der Herr, der ganz allein da wohnt. Er muß vom Markt kommen und bringt sich wohl Leckerbissen mit.«
Pierre stellte sich, als höre er nicht, denn er hielt seinen Gefährten für zu leichtfertig, als daß er ihn hätte ins Vertrauen ziehen mögen. Dann erfaßte ihn eine Verlegenheit, eine Art schamhaften Erschreckens beim Gedanken an diese Befriedigung der Fleischeslust, von der er jetzt wußte, daß sie sich da, inmitten der ihn umgebenden mystischen Begeisterung sättigte.
Sie kamen im Hospital gerade im Augenblick an, als man die Kranken herabbrachte, um sie nach der Grotte zu führen. Da Marie gut geschlafen hatte, war sie sehr heiter. Sie umarmte ihren Vater und schalt ihn, als sie erfuhr, daß er seinen Ausflug nach Gavarnie noch nicht festgesetzt hatte. Wenn er nicht ginge, würde es sie sehr betrüben. Übrigens würde sie an diesem Tag noch nicht geheilt werden, sagte sie mit ihrer ausgeruhten und lächelnden Miene. Dann nahm sie ein geheimnisvolles Aussehen an und bat Pierre dringend, ihr die Erlaubnis zu erwirken, die folgende Nacht vor der Grotte zubringen zu dürfen. Das war eine von allen heiß begehrte, aber nur wenigen besonders Begünstigten gewährte Gunst. Nachdem er sich sehr beunruhigt gegen eine so unter freiem Himmel verbrachte Nacht erklärt hatte, mußte er ihr, da er sie plötzlich sehr unglücklich sah, trotzdem versprechen, die nötigen Schritte zu tun. Ohne Zweifel hoffte sie, sich der Heiligen Jungfrau nur unter vier Augen, im Schlummerfrieden der Finsternis verständlich machen zu können. An diesem Morgen fand sie sich unter den vor der Grotte haufenweise versammelten Kranken so verloren, daß sie gleich um zehn Uhr nach dem Hospital zurückgebracht zu werden wünschte. Sie klagte, das helle Tageslicht habe ihre Augen angegriffen.
Als ihr Vater und der Priester sie wieder im Saal Sainte-Honorine untergebracht hatten, beurlaubte sie die beiden für den ganzen Tag.
»Nein«, sagte sie, »holen Sie mich nicht ab! Ich werde diesen Nachmittag nicht nach der Grotte zurückkehren – es ist unnütz. Aber am Abend, gleich um neun Uhr, werden Sie da sein, um mich hinzuführen, nicht wahr, Pierre? Es ist abgemacht, Sie haben mir Ihr Wort gegeben.«
Er wiederholte, daß er sich bemühen würde, die Erlaubnis zu erhalten, und daß er sich nötigenfalls an den Pater Fourcade wenden würde.
»Also auf heute abend, mein Liebling!« sagte Herr von Guersaint und umarmte sie.
Und sie verließen Marie. Sie lag sehr ruhig in ihrem Bett, war ganz in Gedanken versunken, ihre großen Augen sahen träumerisch und lächelnd in die Ferne.
Als sie wieder in das Hotel des Apparitions zurückkehrten, war es kaum halb elf Uhr. Herr von Guersaint, den das schöne Wetter entzückte, sprach davon, auf der Stelle zu frühstücken, um möglichst bald eine Wanderung durch Lourdes anzutreten. Da er aber trotzdem den Weg nach seinem Zimmer einschlug und Pierre ihn begleitet hatte, so wurden sie Zeugen einer dramatischen Begebenheit. Die Tür der Vignerons stand weit offen, und man sah den kleinen Gustave, auf dem Sofa ausgestreckt, das ihm als Bett diente. Er war bleigrau und hatte gerade einen heftigen Ohnmachtsanfall überstanden, der Vater und Mutter einen Augenblick hatte glauben lassen, es sei sein Ende. Frau Vigneron war, stumpfsinnig vor Furcht, auf einen Stuhl gesunken, während Herr Vigneron, im Zimmer hin und her eilend, alles herumstieß, indem er ein Glas Zuckerwasser bereitete, in das er Tropfen eines Elixiers träufelte. Er rief, dieser Trank werde ihn sofort wieder vollständig herstellen. Aber sei das zu begreifen? Ein solch kräftiger Knabe falle in Ohnmacht und werde weiß wie ein Huhn! Und er betrachtete die Tante, Frau Chaise, die gut aussah und vor dem Sofa stand. Seine Hände zitterten noch mehr bei dem trüben Gedanken, daß, wenn diese einfältige Krise seinen Sohn hinweggerafft hätte, jetzt die Erbschaft der Tante nicht mehr ihnen gehören würde. Er war außer sich, sperrte die Zähne des Knaben auseinander und goß ihm mit Gewalt das ganze Glas ein. Als er ihn seufzen hörte und die Augen wieder öffnen sah, zeigte sich auch seine väterliche
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