Lourdes
davon zu reden brauchten, trat ihnen das alles in der Vereinigung ihrer Hände wieder vor die Seele. Sie versprachen sich, füreinander zu beten, sie vergaßen sich selbst, bis sie ineinander aufgingen mit einem solch heißen Wunsch nach ihrer Heilung und nach ihrem gegenseitigen Glück, daß sie einen Augenblick den Grund jener Liebe berührten, die sich hingibt und sich opfert. Es war ein göttlicher Genuß.
»Ach!« flüsterte Pierre, »dieser blaue Nachthimmel, dieser endlose Schatten! Wie haben sie alle Häßlichkeit der Menschen und Dinge hinweggeräumt! In diesem unermeßlichen, erfrischenden Frieden möchte ich meine Zweifel einschläfern.«
Seine Stimme verlöschte. Da sagte Marie ganz leise:
»Und die Rosen! Dieser Rosenduft. Verspüren Sie ihn nicht, mein Freund? Wo mögen sie nur sein, da Sie sie doch nicht gesehen haben?«
»Ja, ja! Ich rieche sie. Aber es gibt hier keine Rosen. Ich hätte sie sonst sicherlich gesehen, denn ich habe eifrig nach ihnen gesucht.«
»Wie können Sie sagen, daß keine Rosen da sind, da sie doch die Luft um uns herum durchduften und wir uns in ihrem Wohlgeruch baden! Da! Minutenlang ist der Duft so stark, daß es mir ist, als ob ich vor Freude vergehe! Gewiß sind Rosen da, in zahlloser Menge sind sie unter unseren Füßen.«
»Nein, ich schwöre es Ihnen. Ich habe mich überall umgesehen, es gibt hier keine Rosen. Oder aber sie müssen unsichtbar sein, es muß das Gras selbst sein, das wir mit Füßen treten, und diese großen Bäume, die uns umringen. Vielleicht dringt ihr Duft sogar aus der Erde heraus und kommt vom nahen Wildbach, von den Wäldern und den Bergen.«
Sie schwiegen einen Augenblick. Dann fuhr sie halblaut fort:
»Wie gut die Rosen riechen, Pierre! Mir scheinen unsere Hände auch ein Blumenstrauß zu sein.«
»Ja, Marie! Der Duft ist entzückend. Und jetzt strömt der Wohlgeruch von Ihnen aus, gerade als ob die Rosen aus Ihren Haaren blühten!«
Sie sprachen nicht mehr. Die Prozession zog noch immer vorüber, und noch immer erschienen an der Krümmung bei der Basilika helle Funken, die aus der Dunkelheit in die Höhe sprudelten wie aus einer unerschöpflichen Quelle. Der unermeßliche Strom der beweglichen Flämmchen zog in seinem zweifachen Kreislauf die Linien eines dunklen, von Feuer eingefaßten Bandes nach. Aber das hauptsächliche Schauspiel erblickte man auf dem Platz der Rosenkranzkirche. Dort drehte sich die Spitze der Prozession, indem sie ihre langsame Schwenkung beibehielt, in einen immer engeren Kreis, in eine Art Wirbel zusammen, der die von Müdigkeit zerschlagenen Pilger betäubte und ihre Gesänge bis zur Heftigkeit steigerte. Bald war dieser Kreis nur noch ein brennender Kern, der Kern eines Nebelsterns, um den sich das feurige Band schlang, das kein Ende nehmen wollte. Aber der glühende Kreis breitete sich aus, er wurde zu einem Teich, dann zu einem See. Der ganze weite Platz vor der Rosenkranzkirche verwandelte sich in ein brennendes Meer, das seine kleinen funkelnden Wellen im Wirbel eines Strudels wälzte, der nie still stand.
Ein der Morgenröte ähnlicher Widerschein ließ, die Basilika weiß erscheinen, der Rest des Horizonts verfiel in tiefe Dunkelheit. Auf der Seite sah man nur einige verlorene Kerzen, die ihren Weg allein zogen, so wie Leuchtkäfer mit ihren kleinen Laternen ihre Bahn suchen. Ein Teil der Prozession mußte jedoch auf den Kalvarienberg gestiegen sein, denn Lichtersterne wandelten auch dort droben unter dem freien Himmel umher. Endlich kam der Augenblick, da die letzten Kerzen erschienen, ihren Gang um die Rasenplätze machten, zusammenflossen und im Flammenmeer untergingen. Dreißigtausend Kerzen brannten, indem sie ihre Kreisbewegung fortsetzten und ihre Glut schürten. Oben an dem hohen ruhigen Himmel waren die Gestirne bleicher geworden. Das dröhnende Rollen der Stimmen, die »Ave, ave, ave Maria!« glichen dem Knistern der flammenden Herzen, die sich in Gebeten verzehrten, um die Seelen zu retten.
Soeben waren die Kerzen nacheinander erloschen und die Herrscherin Nacht dunkel und mild aufs neue herniedergesunken, als Pierre und Marie merkten, daß sie sich noch immer auf derselben Stelle befanden, Hand in Hand unter der geheimnisvollen Hülle der Bäume. In der Ferne, in den dunklen Straßen von Lourdes gingen nur noch verirrte Pilger, die sich nach dem Weg erkundigten, um ihr Lager aufzusuchen. Im Schatten streifte und huschte alles herum, was am Ende von Festtagen sich umhertreibt und den Schlaf
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