Lourdes
war, um den Rasenplatz herum durch die zweite lange Allee wieder herauf. Es bedurfte mehr als einer Viertelstunde, um diese Bewegung auszuführen. Jetzt bildete die doppelte Linie zwei lange parallele Flammenzüge, über denen die Figur einer Sonne triumphierend emporragte. Der Marsch dieser feurigen Schlange, die ohne Aufenthalt dahin glitt, deren goldene Ringe sanft über den schwarzen Boden krochen und sich ins unendliche verlängerten, ohne daß der aufgewickelte ungeheure Leib ein Ende zu nehmen schien, erregte immer wieder Bewunderung. Mehrmals mußten Aufenthalte entstanden sein, denn die Linien hatten gewankt, als wollten sie brechen. Doch die Ordnung war bald wiederhergestellt, die gleitende Bewegung mit langsamer Regelmäßigkeit wieder aufgenommen. Am Himmel schienen weniger Sterne zu stehen. Eine Milchstraße mit ihren Stäubchen, die Welten bedeuten, war von oben herabgefallen und setzte auf Erden den Rundtanz ihrer Gestirne fort. Ein blauer Lichtglanz rieselte, alles schien in einen einzigen Himmel ineinander geschwommen zu sein. Die Bauten und Bäume nahmen im geheimnisvollen Schimmer der Kerzen, deren Zahl stets wuchs, den Anschein von Traumgebilden an.
Marie stieß einen Seufzer atemloser Bewunderung aus, Sie fand keine Worte und wiederholte nur:
»Wie ist das schön! Mein Gott, wie ist das schön! Sehen Sie doch, Pierre, wie schön das ist!«
Seitdem aber die Prozession einige Schritte von ihnen vorüberzog, bestand sie nicht mehr einzig aus einer rhythmischen Bewegung von Sternen, die von keiner Hand getragen wurden. Sie unterschieden jetzt in der leuchtenden Wolke die Personen und erkannten beim Vorübergehen auf Augenblicke die Pilger, die die Kerzen hielten. Da war zuerst die Grivotte, die trotz der später Stunde mit dabei sein wollte. Sie übertrieb die Tatsache ihrer Heilung, wiederholte, daß sie sich nie besser befunden hätte, und behielt in der frischen Nacht, die ihr einen Schauder verursachte, den überspannten Gang einer Tänzerin bei. Dann erschienen die Vignerons, der Vater an der Spitze. Er trug seine Kerze recht hoch und war von Frau Vigneron und Frau Chaise begleitet, die ihre müden Beine nur mühsam fortschleppten, während der kleine, abgezehrte Gustave, dessen rechte Hand von Wachstropfen bedeckt war, den Sand mit seiner Krücke stampfte. Alle Kranken, die gehen konnten, waren anwesend, auch Elise Rouquet, die mit ihrem nackten roten Gesicht wie die Erscheinung einer Verdammten vorüberzog. Andere lachten. Die im vorigen Jahre wunderbar geheilte kleine Sophie Gouteau vergaß ihre Umgebung und spielte mit ihrer Kerze wie mit einem Stock. Kopf an Kopf zog es dahin, hauptsächlich waren es Frauen, zum Teil von schmutziger Gemeinheit, bisweilen von stolzer Haltung, Gesichter, die man eine Sekunde flüchtig sah und die dann in der phantastischen Beleuchtung untertauchten. Endlos ging der Zug an ihnen vorüber. Da bemerkten sie noch einen kleinen, dunklen, ganz bescheiden dahinziehenden Schatten: es war Frau Maze, die sie gar nicht erkannt hätten, wenn sie nicht einen Augenblick ihr bleiches, von Tränen überströmtes Gesicht erhoben hätte.
»Sehen Sie dorthin«, sagte Pierre zu Marie, »dort kommen die ersten Lichter der Prozession auf dem Platz der Rosenkranzkirche an, und ich bin gewiß, daß die Hälfte der Pilger sich noch vor der Grotte befindet.«
Marie hatte die Augen erhoben. In der Tat sah sie oben an der linken Ecke der Basilika andere Lichter regelmäßig und ohne Unterbrechung auftauchen, in einer Art mechanischer Bewegung, die nie aufzuhören schien.
»Ach«, sagte sie, »wie viele mit Mühsal beladene Seelen sind das! Denn stellt nicht jedes dieser kleinen Flämmchen eine leidende und sich befreiende Seele dar?«
Pierre mußte sich neigen, um sie zu verstehen. Denn das Kirchenlied, der Klagegesang der Bernadette betäubte sie, seitdem die Flut so nahe bei ihnen vorüberzog. Die Stimmen erschallten in wachsendem Taumel, die Strophen erklangen allmählich ganz durcheinander, jeder Teil der Prozession sang eine andere mit verzückten Stimmen, wie Besessene, die sich selber nicht mehr verstehen. Es war ein ungeheures, verworrenes Geschrei, das rasende Geschrei einer Menschenmenge, die ihr Glaubenseifer ganz berauschte. Und immer wieder erscholl der Kehrreim, das »Ave, ave, ave Maria!« und übertönte den Lärm mit seinem qualvollen Rhythmus, der rasend machen konnte.
Pierre und Marie waren erstaunt, Herrn von Guersaint plötzlich wiederzusehen.
»Ach,
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