Lourdes
sucht. Sie aber vergaßen sich selbst, wichen nicht von der Stelle und fühlten sich unaussprechlich glücklich im Duft der unsichtbaren Rosen.
IV
Pierre rollte Maries kleinen Wagen vor die Grotte und brachte ihn so nahe wie möglich beim Gitter unter. Mitternacht war vorüber und einige hundert Personen befanden sich noch dort: die einen saßen auf den Bänken, die meisten lagen, wie bis zur Vernichtung in das Gebet vertieft, auf den Knien. Die von den Kerzen beleuchtete Grotte flammte gleich einer brennenden Kapelle, ohne daß man darin etwas anderes unterscheiden konnte als den sternflimmernden Staub, aus dem in ihrer Nische die Statue der Heiligen Jungfrau traumhaft weiß auftauchte. Das herabfallende grüne Laub nahm einen Smaragdglanz an, die tausend Krücken, die die Wölbung bekleideten, glichen einem unentwirrbaren Netz abgestorbenen Holzes, das bald wieder grünen zu wollen schien. Durch einen so lebhaften Glanz wurde die Nacht noch dunkler, die Umgebung versank in einem dichten Schatten, in dem man weder Wände noch Bäume mehr erkannte. Nur die ununterbrochen murmelnde Stimme des Gave ließ sich vernehmen. Er wälzte in der Nähe seine Wellen vorüber, die unter dem hohen, ruhigen, von der Schwüle eines Gewitters beladenen Himmel eine köstliche Frische ausströmten.
»Befinden Sie sich wohl, Marie?« fragte Pierre sanft. »Frieren Sie nicht?«
Ein Zittern hatte sie überlaufen. Aber es war nur ein schwacher Hauch aus dem Jenseits, den ihr die Grotte zuzuwehen schien.
»Nein, nein! Ich fühle mich ganz wohl! Breiten Sie nur das Tuch über meine Knie... Ich danke, Pierre! Und beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht, ich habe niemand mehr nötig, denn jetzt bin ich bei ihr...«
Ihre Stimme versagte. Sie fiel bereits in Ekstase, mit gefalteten Händen, die Augen zur weißen Statue erhoben, und ihr armes, krankes Gesicht war ganz von Glückseligkeit verklärt.
Trotzdem blieb Pierre noch einige Minuten an ihrer Seite. Er hätte sie, da er ihre kleinen, abgemagerten Hände zittern sah, gern in das Tuch eingewickelt. Aber er fürchtete sich, dies gegen ihren Willen zu tun, und begnügte sich, sie wie ein Kind zuzudecken. Sie bemerkte ihn schon gar nicht mehr.
Eine Bank stand in der Nähe, und um sich selbst zu sammeln, setzte er sich darauf, als seine Blicke auf eine im Schatten kniende Frau fielen. Sie war schwarz gekleidet, erschien so klein und hielt sich so bescheiden im Hintergrund, daß er sie zuerst gar nicht bemerkt hatte. Dann erriet er Frau Maze. Der Gedanke an den Brief, den sie im Laufe des Tages erhalten haben mußte, stieg in ihm auf, und er bemitleidete sie. Er fühlte die Verlassenheit dieser Einsamen, der keine körperliche Wunde geheilt zu werden brauchte, sondern die von der Heiligen Jungfrau nur verlangte, sie solle ihr Herzeleid stillen durch die Bekehrung ihres untreuen Mannes. Der Brief mußte irgendeine harte Antwort enthalten haben, denn mit geneigtem Angesicht schien sie in der Demut eines armen, gepeinigten Geschöpfes zu vergehen. Nur zur Nachtzeit mochte sie sich hier ganz vergessen. Sie war glücklich, sich so ganz in ihr Leid versenken, Stunden hindurch weinen, ihr Martyrium erdulden und um die Wiederkehr der verschwundenen Zärtlichkeiten flehen zu können, ohne daß jemand ihr schmerzliches Geheimnis ahnte. Ihre Lippen bewegten sich nicht einmal, nur ihr gequältes Herz betete und verlangte nach seinem Anteil an Liebe und Glück.
Ach, dieser unlöschbare Durst nach Glück! Alle diese an Leib und Seele Verwundeten führte er hierher, und auch Pierre fühlte, wie er ihm die Kehle austrocknete und ein brennendes Bedürfnis erweckte, gelöscht zu werden. Er hätte sich auf die Knie werfen und den göttlichen Beistand mit dem demütigen Glauben dieser Frau anflehen mögen. Aber seine Glieder waren wie gefesselt, und er fand die nötigen Worte nicht. Es war eine Erleichterung für ihn, als er fühlte, daß jemand seinen Arm berührte.
»Herr Abbé, kommen Sie doch mit mir, wenn Sie die Grotte nicht kennen. Ich werde Sie dort unterbringen. Man befindet sich zu dieser Stunde recht gut darin.«
Er erhob den Kopf und erkannte den Baron Suire, den Vorsteher der Pfleger Notre-Dame de Salut. Ohne Zweifel hatte ihn dieser wohlwollende und aufrichtige Mann liebgewonnen. Er nahm die Einladung an und begleitete ihn in das Innere der ganz leeren Grotte. Der Baron verschloß sogar hinter ihnen das Gitter, zu dem er einen Schlüssel besaß.
»Sehen Sie, Herr Abbé«, sagte er, »das ist
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