Lourdes
sein, wenn sie alle diese Wunder sähe!«
Sie dachte an ihre in Paris zurückgelassene Schwester, die sich mit dem harten Beruf abquälte, Unterricht zu geben. Und dies einfache Wort, die Erwähnung der Schwester, von der sie seit ihrer Ankunft in Lourdes nicht gesprochen hatte und die nun da unerwartet vor ihrem Gedächtnis auftauchte, genügte, um die ganze Vergangenheit heraufzubeschwören.
Ohne zu sprechen, durchlebten Marie und Pierre noch einmal ihre Kinderzeit, die Spiele von einst in den zwei aneinander grenzenden Gärten, die eine Hecke schied. Dann kam die Trennung, der Tag, an dem er ins Seminar eintrat und an dem sie ihn unter heißen Tränen auf die Wangen küßte, indem sie schwur, ihn nie zu vergessen. Jahre gingen darüber hin, da fanden sie sich wieder, auf ewig geschieden. Er war Priester, sie durch die Krankheit ans Lager gefesselt, und sie hatte keine Aussicht mehr, Weib zu werden. Ihre ganze Geschichte bestand in einer glühenden, ihnen selbst lange unbewußt gebliebenen Zärtlichkeit, dann in einem gänzlichen Bruch, als ob sie gestorben wären, obgleich sie nebeneinander lebten. Sie sahen jetzt im Geiste die armselige Wohnung wieder, in der die ältere Schwester sich abmühte, durch ihre Unterrichtsstunden ein wenig Wohlbehagen zu schaffen, die armselige Wohnung, von der man fortgezogen war, um nach Lourdes zu gehen, allerdings nach vielen Kämpfen und Beratungen, nach den von seiner Seite ausgesprochenen Zweifeln und ihrem leidenschaftlichen Glauben, der schließlich den Sieg davongetragen hatte. Und nun war es wirklich köstlich, sich so ganz allein wiederzufinden in diesem finstern Winkel, in dieser bewunderungswürdigen Nacht, in der es auf Erden ebensoviel Sterne gab wie am Himmel.
Marie hatte sich bisher die Seele eines kleinen Kindes, die beste und reinste Seele, eine fleckenlose Seele, wie ihr Vater sagte, bewahrt. Sie war mit dreizehn Jahren von der Krankheit befallen worden und seitdem nicht mehr älter geworden. Heute mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie immer noch dreizehn, denn vom Augenblick der Katastrophe an war sie ein in sich selbst gekehrtes, kindliches Wesen geblieben. Man sah das an ihren unbeweglichen Augen, ihrem zerstreuten Gesichtsausdruck, an der beständigen Vertraulichkeit, an der Unfähigkeit, etwas anderes zu wollen. Sie hatte die Seele eines sittsamen, heranwachsenden Mädchens, bei dem die erwachende Leidenschaft sich mit innigen Küssen auf die Wangen begnügte. Sie hatte keinen andern Roman erlebt als den Abschied, den sie unter Tränen von ihrem Freunde nahm, und das genügte, ihr Herz seit zehn Jahren auszufüllen. Die frommen Bücher, die man ihr gestattete, erhielten sie in der Begeisterung für eine übernatürliche Liebe. Sogar die Geräusche der Außenwelt verhallten an der Tür des Zimmers, in dem sie klösterlich eingeschlossen lebte. Und wenn man sie bisweilen von einem Ende Frankreichs zum andern, von einem Badeort zum anderen brachte, so ging sie durch die Volksmassen wie eine Nachtwandlerin, die nichts sieht und hört, sondern nur von der fixen Idee beherrscht wird, daß sie das Band verloren hat, das sie mit ihrem Geschlecht verknüpfte. Daher diese Reinheit und Kindlichkeit, und so wurde sie zur Tochter des Leidens, die von Liebe nichts wußte und in ihrem Herzen nur das entfernte Dämmern ihrer dreizehn Jahre bewahrte.
Die Hand Mariens suchte im Finstern Pierres Hand. Als sie sie gefunden hatte, da hielt sie sie lange fest. O welche Freude! Nie hatten sie eine so reine und vollkommene Freude gekostet, fern von aller Welt in diesem höchsten Reiz des Schattens und des Geheimnisses derart beisammen zu sein! Um sie herum bewegten sich nur noch die kreisenden Lichtersterne. Der Wiegengesang selbst trug sie wie auf Flügeln in schwindelnde Höhen empor. Marie wußte wohl, daß sie am folgenden Tage geheilt würde, wenn sie eine Nacht der Begeisterung vor der Grotte zubrachte. Sie war völlig überzeugt davon, daß sie sich der Heiligen Jungfrau verständlich machen und sie erweichen würde, sobald sie sich allein von Angesicht zu Angesicht mit ihr befände, um sie anzuflehen. Die Kranke verstand auch genau, was Pierre vorhin damit hatte sagen wollen, als er den Wunsch ausdrückte, gleichfalls die ganze Nacht vor der Grotte zu bleiben. War er nicht entschlossen, eine letzte Anstrengung um seinen Glauben zu machen, wie ein kleines Kind niederzuknien, um die allmächtige Mutter zu bitten, ihm den verlorenen Glauben wiederzugeben? Ohne daß sie
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