Lourdes
Kinder!« begann dieser, »ich wollte mich da oben nicht verspäten. Soeben habe ich wiederholt die Prozession durchbrochen, um hierherzukommen. Aber welch ein Schauspiel! Das ist sicher das erste wirklich schöne Schauspiel, dem ich beiwohne, seitdem ich hier bin.«
Und er schickte sich an, ihnen die von der Höhe des Kalvarienbergs gesehene Prozession zu beschreiben.
»Stellt euch, meine Kinder, einen zweiten Himmel hier unten vor, der den Abglanz des oberen zurückstrahlt, einen Himmel, den ein einziges, unermeßliches Sternbild vollständig einnimmt. Der Feuerstrom stellt eine Monstranz dar. Ja, eine wirkliche Monstranz! Ihr Fuß wurde durch die Rampen gebildet, der Schaft durch die zwei Parallelalleen, die Hostie durch den runden Rasen. Eine Monstranz aus brennendem Gold, die in der Tiefe der Finsternis beim immerwährenden Funkeln der sich bewegenden Sterne aufflammt. Darüber geht nichts, sie ist riesig, großartig. Wahrhaftig, ich habe noch niemals etwas so Außerordentliches gesehen!«
Er fuchtelte mit den Armen herum, war außer sich und floß über von künstlerischer Erregung.
»Väterchen!« sagte Marie zärtlich, »weil du jetzt doch zurück bist, solltest du schlafen gehen. Es ist beinahe elf Uhr, und du weißt, daß du um zwei Uhr morgen früh abreisen mußt.«
Um ihn zu einem Entschluß zu bringen, fügte sie hinzu:
»Mir macht es so viel Vergnügen, daß du diesen Ausflug unternimmst! Nur sei frühzeitig wieder zurück, denn du wirst sehen, du wirst sehen –«
Sie wagte nicht zu behaupten, daß sie gewiß war, geheilt zu werden.
»Du hast recht«, sagte Herr von Guersaint besänftigt. »Ich werde mich gleich zu Bett legen. Da Pierre bei dir ist, habe ich keine Sorge.«
»Aber«, rief sie aus, »ich will nicht, daß Pierre die Nacht hier bei mir verbringt. Wenn er mich zur Grotte geführt hat, wird er sich dir wieder anschließen. Ich habe dann niemanden mehr nötig. Der erste beste Sänftenträger wird mich morgen früh ins Hospital zurückbringen.«
Pierre schwieg. Dann sagte er einfach:
»Nein, nein, Marie! Ich bleibe. Ich werde mit Ihnen die Nacht vor der Grotte bleiben.«
Sie öffnete den Mund zum Sprechen, wollte auf ihrem Willen bestehen und ärgerlich werden. Aber er hatte es so sanft gesagt, und sie fühlte aus seinen Worten ein so schmerzhaftes Verlangen nach Glück heraus, daß sie, bis in den Grund der Seele gerührt, Schweigen bewahrte.
»Also Kinder«, begann der Vater wieder, »seht, wie ihr fertig werdet! Ich weiß, daß ihr beide sehr verständig seid. Und nun gute Nacht, habt keine Sorge um mich!«
Er umarmte lange seine Tochter, drückte die beiden Hände des jungen Priesters, ging dann hinweg und verlor sich in den gedrängten Reihen der Prozession, die er aufs neue durchbrechen mußte.
Dann waren sie allein in ihrem schattigen, einsamen Winkel unter den großen Bäumen. Sie saß noch immer in der Tiefe ihres Wagens. Er kniete zwischen den Gräsern und stützte den Ellenbogen auf eines der Räder. Es war wunderschön, der Zug der Kerzen dauerte fort, und diese verdichteten sich, indem sie den Platz der Rosenkranzkirche umkreisten, zu ganzen Massen. Den jungen Priester entzückte es, daß von den Zechgelagen des Tages nichts an Lourdes zu halten schien. Es dünkte ihn, ein reinigender Wind sei herabgekommen von den Bergen und habe den starken Speisegeruch, die gefräßigen Sonntagsfreuden und den ganzen glühenden, verpesteten Jahrmarktsstaub, der über der Stadt schwebte, hinweggefegt. Nun breitete sich nur noch ein grenzenloser Himmel mit reinen Sternen über Lourdes aus. Die Frische des Gave war köstlich, und die wehenden Lüftchen trugen die Wohlgerüche wilder Blumen herbei. Die geheimnisvolle Unendlichkeit vermischte sich mit dem unumschränkten Frieden der Nacht, und von der Welt blieb nichts übrig als diese kleinen Flammen der Kerzen, die seine Gefährtin mit leidenden Seelen verglichen hatte. Eine wohltuende Ruhe kam über ihn und eine Hoffnung ohne Grenzen. Seitdem er sich hier befand, verließen ihn nach und nach die verletzenden Erinnerungen an den Nachmittag, an die gierige Eßlust, den schamlosen Handel mit heiligen Gegenständen, die alte, verdorbene und der Entehrung preisgegebene Stadt. Sie überließen ihn nur dieser göttlichen Erfrischung, dieser wundervollen Nacht, in der sein ganzes Wesen sich badete wie in einem Wasser der Auferstehung.
Auch Marie flüsterte, von unendlicher Weichheit durchdrungen:
»Ach, wie glücklich würde Blanche
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