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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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zu lügen. Niemals gab es ein aufrichtigeres, bescheideneres und reizenderes Kind.«
    Er wurde leidenschaftlich und erregte sich. Dann wurde er plötzlich ruhig, und auf seinen bleichen Lippen zeigte sich ein Lächeln.
    »Es ist wahr«, sagte er, »ich habe sie gern. Je mehr ich an sie dachte, desto mehr liebte ich sie. Aber sehen Sie, Pierre, Sie brauchen mich wegen meines Glaubens nicht ganz und gar für dumm zu halten. Wenn ich auch heute abziehe, was auf die Rechnung des Jenseits kommt, und wenn ich das Bedürfnis fühle, an ein anderes, besseres und gerechteres Leben zu glauben, so weiß ich doch auch, daß Menschen in dieser niederen Welt zurückbleiben. Und ob sie nun die Kutte oder die Soutane tragen, sie treiben manchmal ein abscheuliches Geschäft.«
    Wiederum trat ein Stillschweigen ein. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Dann fuhr er fort:
    »Ich will Ihnen einen Gedankengang mitteilen, der mich oft beschäftigt hat. Nehmen Sie an, Bernadette wäre kein so einfaches und scheues Kind gewesen: geben Sie ihr einen ränkesüchtigen und herrschbegierigen Geist, machen Sie aus ihr eine Eroberin und Leiterin des Volkes, und versuchen Sie dann, sich die Dinge klarzumachen, die unter solchen Umständen vorgefallen wären. Offenbar würden die Grotte und die Basilika ihr gehören. Wir sähen sie bei den Zeremonien auf einem Thron unter einem Altarhimmel sitzen und eine goldene Bischofsmütze tragen. Sie wäre es, die die Wunder verteilte, und ihre kleine Hand würde mit der Geste einer Herrscherin die Volksmassen dem Himmel zuführen. Sie würde strahlen als die Heilige, die Auserwählte, als die, die allein die Gottheit von Angesicht zu Angesicht geschaut hat. Und um es kurz zu sagen, das wäre nur gerecht, sie würde sich nur des Erfolgs erfreuen, nachdem sie die Mühe überstanden hat. Sie ist jedoch um dies alles betrogen und beraubt worden. Andere erfreuen sich der wunderbaren Ernten, die sie gesät hat. Während der zwölf Jahre, die sie in Saint-Gildard im Schatten kniend verlebte, gab es hier sieghafte, in goldene Gewänder gekleidete Priester, die Dankgebete sangen und Kirchen und Monumente einweihten, deren Bau Millionen gekostet hatte. Sie allein fehlte beim Triumph des neuen Glaubens, dessen Gründerin sie war. Sie sagen, sie hätte nur geträumt. Ach, welch ein schöner Traum, der so vielen Menschen das Herz erschütterte und aus dem sie selbst niemals erwacht ist!«
    Sie hemmten ihre Schritte und setzten sich, ehe sie nach der Stadt zurückkehrten, einen Augenblick auf einen Felsen am Straßenrand. Im goldenen Regen des Sonnenscheins wehte eine frische Luft von den Bergen herab.
    Pierres Empörung hatte einen neuen Gegenstand gefunden, als er diese Geschichte von Bernadettes Ausbeutung und Unterdrückung vernahm. Mit gesenkten Augen dachte er über die Ungerechtigkeit der Natur, über das Gesetz nach, auf Grund dessen der Starke den Schwachen auffrißt.
    Dann erhob er den Kopf und sagte:
    »Haben Sie auch den Abbé Peyramale gekannt?«
    Die Augen des Doktors leuchteten aufs neue auf. Er antwortete lebhaft:
    »Gewiß! Das war ein gerader und mutiger Mann, ein Heiliger, ein Apostel! Er war mit Bernadette der große Arbeiter Unserer Lieben Frau von Lourdes. Wie sie, hat auch er entsetzlich darunter gelitten, und er ist daran gestorben. Man weiß nichts und versteht nichts von dem Drama, das sich hier abgespielt hat, wenn man seine Geschichte nicht kennt.«
    Er erzählte sie dann ausführlich. Der Abbé Peyramale war zur Zeit der Erscheinungen Kurat von Lourdes, ein großer, breitschulteriger Mann mit mächtigem, löwenhaften Kopf, ein Bauer von lebhaftem Verstand, sehr ehrenhaft und sehr gütig, aber manchmal ein wenig hitzig und herrschsüchtig. Er schien geschaffen, um zu handeln, war ein Feind jedes frommen Wahns und erfüllte sein geistliches Amt sehr großherzig. Deshalb mißtraute er anfangs Bernadette, weigerte sich, ihren Erzählungen Glauben zu schenken, forschte sie aus und verlangte Beweise. Erst später, als das Wehen des Glaubens unwiderstehlich wurde, die Widerspenstigsten zu Boden warf und die Massen mit sich fortriß, beugte auch er sich. Hauptsächlich aber wurde er bezwungen durch seine Liebe zu den Demütigen und Unterdrückten, als er damals Bernadette in Gefahr glaubte, gefangengenommen zu werden, weil sie die Zivilbehörden gegen sich hatte: man bedrohte eines seiner Schafe, sein Hirtenherz erwachte, und er fing an, Bernadette mit der glühenden Leidenschaft seiner

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