Lourdes
sie in ihrem Bett zu umarmen. Elise Rouquet gab sich mit niemandem mehr ab. Sie hatte ihren Spiegel vorgenommen und war vertieft in die Betrachtung ihres Gesichtes, von dem sie glaubte, es werde augenscheinlich schöner, seitdem die Wunde einzutrocknen begann. Der Anblick aber, den die in ihrer Ekstase hinreißende Marie bot, schien die Sterbende zu entzücken. Sie betrachtete sie lange, und zu ihr wanderten ihre Blicke immer wieder zurück, wie auf eine lichtvolle, freudenspendende Erscheinung. Vielleicht glaubte sie schon die Heiligen des Paradieses im Glorienlicht der Sonne wahrzunehmen.
Plötzlich begann sie wiederum, sich zu erbrechen, und von jetzt an kam nur noch Blut, verdorbenes, weinfarbiges Blut zum Vorschein. Der Erguß war so stark, daß er das Leintuch bespritzte und das ganze Bett besudelte. Es war vergeblich, daß Frau von Jonquière und Frau Desagneaux, beide sehr bleich und mit versagenden Beinen, Servietten brachten. Ferrand, der nicht zu helfen vermochte, hatte sich bis ans Fenster zurückgezogen, und auch Schwester Hyacinthe in einer instinktiven Bewegung, deren sie sich gewiß nicht bewußt war, kam zu jenem glücklichen Fenster zurück, gleichsam als wollte sie sich eng an ihn lehnen.
»Mein Gott!« sagte sie wiederholt, »Sie können also nichts tun?«
»Nein, nichts! Sie wird verlöschen wie eine Lampe, deren Öl auf die Neige geht.«
Frau Vêtu richtete jetzt, indem sie die Lippen bewegte, ihre Blicke fest auf Frau von Jonquière. Sie war erschöpft, und noch floß ihr ein Faden rotes Blut aus dem Mund. Die Vorsteherin neigte sich über sie und hörte, wie sie langsam halbe Worte kaum zu Ende sprach:
»Wegen meines Gatten ... Der Laden befindet sich in der Rue Mouffetard. Er ist ganz klein, nicht weit weg von den Gobelins. Er ist Uhrmacher und konnte mich natürlich nicht begleiten, wegen der Kundschaft. Er wird wohl in Verlegenheit geraten, wenn er mich nicht zurückkommen sieht ...«
Ihre Stimme wurde schwächer, und ein stoßweises Röcheln unterbrach die Worte.
»Ich möchte Sie bitten, ihm zu schreiben, denn ich ... ich habe es nicht getan, und jetzt ist es zu Ende ... Sagen Sie ihm, daß mein Leichnam in Lourdes bleibt, sonst würde es zuviel Kosten machen ... Und er soll wieder heiraten, das verlangt das Geschäft ... Die Cousine, sagen Sie ihm, die Cousine ...«
Sie brachte nur noch ein verworrenes Murmeln hervor. Ihre Schwäche war zu groß, der Atem stand still. Trotzdem blieben die Augen offen und lebten noch in dem gelben, wachsbleichen Gesicht. Und diese Augen schienen sich verzweiflungsvoll an die Vergangenheit, an alles anzuklammern, was bald nicht mehr für sie bestehen sollte: an den kleinen Uhrmacherladen in einem volkreichen Stadtviertel, an die gleichmäßige, angenehme Führung des Haushaltes an der Seite eines arbeitsamen Gatten, der sich stets über seine Uhren beugte, an das große Vergnügen, das man am Sonntag genoß, wenn man bei den Festungswerken Papierdrachen steigen sah. Dann erweiterten sich die Augen, sie suchten vergeblich etwas zu unterscheiden in der schrecklichen Nacht, die vor ihnen aufstieg.
Ein letztes Mal neigte sich Frau von Jonquière, da sie die Lippen der Sterbenden neuerdings in Bewegung sah. Aber nur noch wie ein leichtes Beben der Luft ertönte wie aus weiter Ferne und in grenzenloser Trostlosigkeit eine Stimme, die vom Jenseits herüber zu zittern schien:
»Sie hat mich nicht geheilt!«
Und Frau Vêtu verschied ganz sanft.
Ais ob sie nur darauf gewartet hätte, sprang die kleine Sophie Couteau befriedigt vom Bett herab und ging an das Ende des Saales zurück, um wieder mit ihrer Puppe zu spielen. Weder die Grivotte, die damit beschäftigt war, den Rest ihres Brotes zu essen, noch Elise Rouquet, die ihr Spiegel ganz in Anspruch nahm, hatten die Katastrophe wahrgenommen. Aber Marie schien im kalten Hauch, der von der Toten ausging, und bei dem bestürzten Zischeln der Frau von Jonquière und der Frau Desagneaux, denen die Gewöhnung an die Nähe des Todes fehlte, zu erwachen. Sie trat heraus aus ihrer erwartungsvollen Verzückung, in die sie das fortgesetzte, wortlose, bei geschlossenem Munde aus ihrem ganzen Wesen aufsteigende Gebet versetzt hatte. Und nachdem sie begriffen hatte, was vorgegangen war, rührte sie, die ihrer Heilung gewiß war, ein schwesterliches Mitleid mit ihrer Leidensgefährtin zu Tränen.
»Ach!« seufzte sie, »die arme Frau, die so in der Ferne, so allein in der Stunde der Wiedergeburt sterben
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