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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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mußte!«
    Auch Ferrand war trotz seiner berufsmäßigen Gleichgültigkeit tief gerührt. Er war näher getreten, um den Tod festzustellen. Auf ein Zeichen von ihm warf Schwester Hyacinthe das Bettuch über die Tote und bedeckte deren Gesicht. Denn man durfte nicht daran denken, in diesem Augenblick den Leichnam fortzutragen. Die Kranken kamen truppweise von der Grotte zurück, und der bisher so ruhige, vom Sonnenschein erhellte Saal füllte sich wieder mit seinem Elend und Leiden, mit tiefem Husten, schleppenden Beinen und fadem Geruch. Er wurde wieder zu einer jammervollen Ausstellung aller menschlichen Gebrechen.

II
    An diesem Montag war der Zulauf zur Grotte unerhört groß. Es war der letzte Tag, den die nationale Pilgerfahrt in Lourdes verbringen sollte, und der Pater Fourcade hatte in seiner am Morgen gegebenen Verhaltungsvorschrift gesagt, man müßte die höchste Kraft des Eifers und Glaubens aufwenden, um vom Himmel alles zu erlangen, was er wohl an Gnaden und wunderbaren Heilungen würde gewähren wollen. Deshalb waren auch seit zwei Uhr nachmittags zwanzigtausend fiebernde und von den glühendsten Hoffnungen erregte Pilger am Platze. Der Menschenstrom wuchs fortwährend, von Minute zu Minute und in einem solchen Grade, daß der Baron Suire erschreckt aus der Grotte heraustrat, um Berthaud wiederholt zu sagen:
    »Mein Freund, wir werden gleich überrannt werden, ganz gewiß. Verdoppeln Sie Ihre Mannschaft und bringen Sie Ihre Leute näher heran.« Die Pflegerschaft von Notre-Dame de Salut war allein mit der Aufrechterhaltung der guten Ordnung beauftragt, denn es gab weder Aufseher noch Polizisten irgendwelcher Art. Das war auch der Grund, weshalb sich der Präsident des Vereins derart beunruhigte. Berthaud jedoch war, wenn es Ernst galt, ein Vorsteher, auf den man hörte, und zeigte eine Tatkraft, die Mut einflößte.
    »Haben Sie keine Sorge«, erwiderte er, »ich hafte für alles. Ich werde hier nicht von der Stelle weichen, bis die Vieruhrprozession vorübergezogen ist.«
    Inzwischen rief er Gérard mit einem Zeichen zu sich.
    »Gib deinen Leuten die strengste Weisung!« sagte er. »Sie dürfen einzig und allein die Personen passieren lassen, die mit Karten versehen sind. Und halte sie nahe beieinander, sage ihnen, sie sollen das Seil kräftig festhalten!«
    Unter den Efeuranken, die den Felsen bekleideten, öffnete sich die Grotte und glänzte in der ewigen Glut ihrer Kerzen. Von ferne zeigte sie sich etwas gedrückt, unregelmäßig, eng und bescheiden, ungeachtet des Hauches der Unendlichkeit, der von ihr ausging, jedes Angesicht bleicher machte und alle Häupter beugte. Die Statue der Jungfrau war nur noch ein weißer Flecken, der sich in der zitternden, von den kleinen gelben Flammen erhitzten Luft zu bewegen schien. Man mußte sich aufrichten, dann erkannte man hinter dem Gitter die verschwommenen Umrisse des silbernen Altars und des Harmoniums, die Blumensträuße und die Weihbilder, die die rauchigen Wände schmückten. Es war ein wunderbar schöner Tag. Noch niemals hatte sich ein reinerer Himmel über der unermeßlichen Menschenmenge ausgebreitet. Hauptsächlich erquickend war der milde Wind nach dem nächtlichen Gewitter, das die allzu drückende Hitze der ersten zwei Tage zum Sinken gebracht hatte.
    Gérard mußte von den Ellenbogen Gebrauch machen, um seine Befehle zu wiederholen. Schon gab es hier und da Stöße.
    »Noch zwei Mann hierher! Stellen Sie sich in Reihen zu vier auf, wenn es nötig ist, und spannen Sie das Seil fest an!«
    In der Menge offenbarte sich ein unüberwindlicher Trieb: die zwanzigtausend Personen, die am Platze waren, wurden von der Grotte gleichsam angezogen. Sie gingen zu ihr, wie von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, in der sich brennende Neugier mit dem Durst nach dem Wunder vermischte. Alle Augen richteten sich auf einen und denselben Punkt, jeder Mund, alle Hände und alle Leiber wurden dem bleichen Flammenglanz der Kerzen, dem weißen, beweglichen Fleck entgegengetragen, den die Marmorstatue der Jungfrau bildete. Und damit der breite, den Kranken vorbehaltene Raum vor dem Gitter von dem wachsenden Menschengewühl nicht überschwemmt wurde, hatte man ihn mit einem dicken Seil umgeben müssen, das die Sänftenträger in Zwischenräumen von zwei oder drei Meter mit beiden Händen festhielten. Sie hatten den Befehl, nur die Kranken eintreten zu lassen, die eine von der Pflegerschaft ausgestellte Karte bei sich führten, oder aber die wenigen Personen, die

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