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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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gestattete er sich, ihn auszufragen.
    »Nun, Herr Kurat«, begann er, »geht es der armen jungen Frau etwas besser?«
    Der Abbé Judaine machte eine Gebärde voll unendlicher Traurigkeit.
    »Ach nein!« antwortete er; »und ich war von so großer Hoffnung erfüllt! Ich war's, der die Familie hierherzukommen bestimmt hat. Die Heilige Jungfrau hatte mir vor zwei Jahren durch die Heilung meiner armen, schon verloren gegebenen Augen eine so außerordentliche Gnade erwiesen, daß ich von ihr noch eine Gunst zu erlangen hoffte. Ich will aber nicht verzweifeln. Es hat noch Zeit bis morgen.«
    Herr Vigneron betrachtete aufmerksam das Frauenangesicht, dessen reines Oval und bewunderungswürdige Augen man noch entdecken konnte, während es vernichtet, bleifarben und einer Totenmaske ähnlich, mitten in den Spitzen lag.
    »Das ist wirklich sehr traurig«, murmelte er.
    »Wenn Sie die Frau noch im letzten Sommer gesehen hätten!« fuhr der Priester fort. »Sie haben ihr Schloß in meinem Kirchspiel, in Saligny, und ich speiste oft bei ihnen zu Mittag. Ich kann die ältere Schwester, Frau Jousseur, die Dame in Schwarz, die dort steht, nicht ohne Betrübnis betrachten, denn sie hat viel Ähnlichkeit mit ihr, und die Kranke war noch hübscher, ja sie war eine Schönheit von Paris. Ziehen Sie nun einen Vergleich und sehen Sie jetzt diesen Glanz, die höchste Grazie an der Seite dieses armseligen, jämmerlichen Wesens. So etwas schnürt das Herz zusammen. Welch schreckliche Lehre!«
    Er schwieg einen Augenblick. Als frommer Mann, ohne irgendwelche Leidenschaften und ohne lebhaften Verstand, der ihn in seinem Glauben gestört hätte, zeigte er eine naive Bewunderung für die Schönheit, den Reichtum und die Macht, die er jedoch niemals zu besitzen gewünscht hatte. Aber er wagte einen Zweifel, einen Gewissensskrupel auszudrücken, der seinen gewohnten Gleichmut störte.
    »Ich hätte gewünscht«, sagte er, »daß sie einfacher und ohne all diese Prachtentfaltung hierhergekommen wäre, weil die Heilige Jungfrau die Demütigen vorzieht. Aber ich begreife sehr wohl, daß es gesellschaftliche Notwendigkeiten gibt. Und wie wird sie von ihrem Gatten und ihrer Schwester geliebt! Denken Sie, daß er sich darein gefügt hat, seine Geschäfte, und sie, ihre Vergnügungen im Stich zu lassen. Im Gedanken, sie zu verlieren, sind sie so bestürzt, daß sie stets die feuchten Augen und die verstörte Miene haben, die Sie an ihnen sehen. Man muß sie daher entschuldigen, wenn sie ihr die Freude machen, bis zur letzten Stunde schön zu sein.«
    Herr Vigneron billigte das mit einer Neigung des Kopfes. Ach, nicht die reichen Leute hatten das meiste Glück bei der Grotte! Dienstmädchen, Bäuerinnen und arme Weiber wurden gesund, während die feinen Damen, nach wie vor mit ihren Krankheiten behaftet, ohne Erleichterung von ihr zurückkehrten trotz ihrer Geschenke und der dicken Kerzen, die sie verbrennen ließen. Und wider seinen Willen betrachtete er Frau Chaise, die sich erholt hatte und mit glückseliger Miene ausruhte.
    Aber jetzt ging eine Bewegung durch die Volksmenge, und der Abbé Judaine sagte:
    »Pater Massias steigt auf die Kanzel. Das ist ein Heiliger, hören Sie nur!«
    Man kannte ihn. Er konnte sich nicht zeigen, ohne daß alle Seelen von einer plötzlichen Hoffnung erregt wurden, denn es wurde erzählt, seine große Inbrunst fördere die Wunder. Er galt für einen Mann, der eine von der Jungfrau geliebte zärtliche und machtvolle Stimme besaß.
    Alle Köpfe hatten sich erhoben, und die seelische Erregung wuchs noch, als man den Pater Fourcade bemerkte, der bis an den Fuß der Kanzel gekommen war, indem er sich auf die Schulter seines vielgeliebten, unter allen bevorzugten Bruders stützte. Er blieb dort, um ihn gleichfalls zu hören. Sein gichtkranker Fuß verursachte ihm seit dem Morgen noch größere Schmerzen, und er bedurfte großen Mutes, um aufrecht stehenzubleiben und zu lächeln. Die sich steigernde Schwärmerei des Volkes machte ihn glücklich, er sah wunderbare, aufsehenerregende Heilungsfälle voraus, zum Ruhme Mariens und Jesus.
    Der Pater Massias auf der Kanzel sprach nicht sofort. Er schien sehr groß, mager und blaß, und sein farbloser Bart machte das aszetische Gesicht noch länger. Plötzlich funkelten seine Augen, und sein großer, beredter Mund stieß leidenschaftlich die Worte heraus:
    »Herr! Rette uns, denn wir gehen zugrunde!« Und das hingerissene Volk wiederholte in von Minute zu Minute wachsendem

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