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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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lauter erhoben sich die Rufe und trugen hartnäckig das erbitterte Elend der Welt in die Lüfte.
    »Jesu, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit deinen kranken Kindern!«
    »Jesu, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit deinen kranken Kindern!«
    »Jesu, du Sohn Davids, komm und heile sie, auf daß sie leben!«
    »Jesu, du Sohn Davids, komm und heile sie, auf daß sie leben!«
    Es war reiner Wahnsinn. Der Pater Fourcade hatte am Fuß der Kanzel, überwältigt von der außerordentlichen Leidenschaft, die aus den Herzen überströmte, die Arme emporgehoben. Auch er schrie mit donnernder Stimme, wie um den Himmel mit Gewalt zu bestürmen. Die elende Menschheit schrie auf aus dem tiefen Abgrund ihrer Leiden, das Geschrei wehte wie ein Schauer über alle Nacken hin, es war nur noch ein von Todesangst befallenes Volk, das sich zu sterben weigerte und Gott zwingen wollte, in seinem Ratschluß das ewige Leben zu beschließen. Ach, das Leben! Alle diese Unglücklichen, die aus so weiter Ferne und mit Überwindung so vieler Hindernisse zusammengeströmten Sterbenden wünschten nur dieses eine und flehten nur darum, in dem zügellosen Bedürfnis weiter und immer weiter zu leben. O Herr! Wie groß auch unser Elend, wie schrecklich die Qual unseres Lebens sein mag, heile uns! Laß uns aufs neue zu leben beginnen, damit wir aufs neue das leiden, was wir gelitten haben. So unglücklich wir auch sein mögen, wir wollen sein. Nicht um den Himmel bitten wir dich, die Erde ist's, die wir so spät wie möglich, ja, die wir niemals zu verlassen begehren, wenn deine Macht geruhen sollte, uns so weit zu willfahren. Und selbst wenn wir dich nicht um eine körperliche Heilung, sondern um eine moralische Hilfe anflehen, so ist es wiederum das Glück, um das wir bitten, das Glück, nach dem uns bis zum Verschmachten dürstet. O Herr! Laß uns glücklich und gesund werden! Laß uns leben! Laß uns leben!
    Dieser wahnsinnige Ruf, der Aufschrei einer rasenden Lebensbegierde, den der Pater Mässias ausstieß, brach sich in der Volksmenge und stieg in Tränen aus jeder Brust empor.
    »O Herr, Sohn Davids! Heile unsere Kranken!«
    »O Herr, Sohn Davids! Heile unsere Kranken!«
    Zweimal hatte Berthaud herbeistürzen müssen, um zu verhindern, daß die Seile durch das unwillkürliche Drängen der Menge zerrissen wurden. Von der Menschenflut überschwemmt, machte der Baron Suire verzweifelte Gebärden, durch die er bat, man möchte ihm zu Hilfe kommen, denn die Pilger waren mit Gewalt in die Grotte eingedrungen. Der Zug war nur noch das Getrampel einer Herde, die sich in ihrer Leidenschaft herumstieß. Vergeblich verließ Gérard Raymonde wieder und stellte sich persönlich an die Eingangstür des Gitters, um den Befehl, nur Abteilungen von zehn zu zehn Personen eintreten zu lassen, wieder zur Geltung zu bringen. Er wurde fortgedrängt und auf die Seite gefegt. Das fiebernde, bis zur Schwärmerei aufgeregte Volk trat ein, stürmte wie ein Gießbach durch den funkelnden Glanz der Kerzen, warf der Heiligen Jungfrau Blumensträuße und Briefe zu und küßte den Felsen, den der heiße Mund von Millionen Pilgern geglättet hatte. Der Glaube war entfesselt und zur höheren Gewalt geworden, der nichts mehr Einhalt tun konnte.
    Ans Gitter gedrückt, hörte Gérard, wie zwei Bäuerinnen, die der Strom fortriß, über den Anblick der vor ihren Augen liegenden Kranken aufschrien. Die eine war gerade durch das bleiche Antlitz des Bruders Isidor mit seinen übermäßig weit geöffneten, auf die Statue der Jungfrau gehefteten Augen befremdet worden. Sie bekreuzigte sich und murmelte, von frommer Bewunderung erfüllt:
    »Oh, sieh doch den da an, wie er von ganzem Herzen betet und wie er Unsere Liebe Frau von Lourdes betrachtet!«
    Und die andere Bäuerin antwortete:
    »Ganz gewiß, sie wird ihn heilen, er ist zu schön!«
    So rührte der Tote mit seiner Liebe und seinem Glauben, den er in seinem Nichtmehrsein fortsetzte und durch die unbegrenzte Stetigkeit seines Blickes alle Herzen und bildete die tiefe Erbauung dieses Volkes, dessen Vorbeimarsch kein Ende nahm.

III
    Der gute Abbé Judaine mußte bei der Vieruhrprozession das heilige Sakrament tragen. Seitdem ihn die Heilige Jungfrau von einer Augenkrankheit geheilt hatte, ein Wunder, von dem die katholischen Zeitungen noch widerhallten, gereichte er Lourdes zum Ruhm. Man räumte ihm dort die erste Stelle ein und ehrte ihn durch allerlei Freundlichkeiten.
    Um dreieinhalb Uhr erhob er sich und wollte die Grotte verlassen. Aber

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