Lourdes
erstarb. Denn ein anderer Prediger, diesmal ein Kapuziner, war auf die Kanzel gestiegen und sein aus tiefer Kehle hervordringender, beharrlich wiederholter Ruf erschütterte das Volk aufs äußerste.
»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, sei gebenedeit!«
»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, sei gebenedeit!«
»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, wende dein Angesicht nicht ab von deinen Kindern!«
»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, wende dein Angesicht nicht ab von deinen Kindern!«
»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, hauche du unsere Wunden an, und unsere Wunden werden vertrocknen!«
»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, hauche du unsere Wunden an, und unsere Wunden werden vertrocknen!«
Die Familie Vigneron hatte es zuwege gebracht, sich auf dem Ende der ersten Bank, zunächst der mittleren, von Menschen versperrten Allee niederzulassen. Sie nahm das ganze Bankende ein, denn alle waren da: der kleine Gustave, der sich entkräftet niedergesetzt hatte und seine Krücke zwischen den Beinen hielt, an seiner Seite die Mutter, die als richtige Bürgersfrau die Gebete begleitete, auf der andern Seite die Tante, Frau Chaise, die, in diese Menge eingekeilt, zu ersticken drohte, und Herr Vigneron, der sie seit einer Weile schweigsam und mit Aufmerksamkeit betrachtete.
»Was fehlt Ihnen denn, meine Liebe?« fragte er endlich. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Sie atmete mit Anstrengung.
»Ich weiß gar nicht. Ich fühle meine Glieder nicht mehr, und ich bekomme keine Luft.«
Sofort kam ihm der Gedanke, daß die mit einer Pilgerfahrt verbundene Aufregung, das Fieber und das Gedränge einer Herzkranken kaum zuträglich sein konnten. Gewiß wünschte er niemandem den Tod, und nie hatte er von der Heiligen Jungfrau etwas Ähnliches begehrt. Wenn sie trotzdem seinen Wunsch nach Beförderung durch den jähen Tod seines Vorgesetzten erhört hatte, so geschah das gewiß aus dem Grunde, weil dieser nach den Ratschlüssen des Himmels zum Sterben verurteilt war. Und wenn Frau Chaise auch zuerst sterben und ihr Vermögen seinem Gustave hinterlassen sollte, so hatte er sich nur vor dem Willen Gottes zu beugen, der die bejahrten Leute gewöhnlich vor den jungen abberuft. Seine Hoffnung war nichtsdestoweniger, ihm unbewußt, so lebhaft, daß er sich nicht enthalten konnte, einen Blick mit seiner Frau auszutauschen, die mit den nämlichen, unfreiwilligen Gedanken beschäftigt war.
»Setz dich zurück, Gustave!« rief er, »du belästigst deine Tante!«
Und als Raymonde vorbeiging, sagte er:
»Könnten Sie uns nicht ein Glas Wasser reichen? Wir haben da eine Verwandte, die das Bewußtsein verliert.«
Frau Chaise lehnte jedoch mit einer Gebärde ab. Sie erholte sich und schöpfte wieder Atem.
»Nein, nichts, ich danke ... Ich fühle mich schon wieder besser. Ach, ich glaubte, diesmal müßte ich ersticken!«
Sie zitterte nach der überstandenen Furcht, und ihre Augen blickten verstört aus dem bleichen Gesicht. Sie faltete aufs neue die Hände und flehte zur Heiligen Jungfrau, sie möchte sie vor weiteren Anfällen bewahren und gesund werden lassen, während die Vignerons, Mann und Frau, die sonst ganz brave Leute waren, wieder auf ihren geheimen Wunsch verfielen, den sie in Lourdes dem Himmel vortrugen: ein glückliches, durch zwanzigjährige Ehrbarkeit wohl verdientes Alter und ein ausreichendes Vermögen, das sie am Abend ihres Lebens auf dem Lande zu verzehren gedachten. Der kleine Gustave hatte mit seinen lebhaften Augen und seinem durch das Leiden geschärften Verstand alles gesehen, alles wahrgenommen. Er betete nicht, sondern sah mit verlorenem, rätselhaften Lächeln ins Leere hinaus. Was nützte es zu beten? Er wußte, daß die Heilige Jungfrau ihn nicht gesund machen würde und daß er sterben mußte.
Aber Herr Vigneron konnte es nicht lange aushalten, ohne sich mit seinen Nachbarn zu beschäftigen. Im Gedränge der von Menschen überfüllten mittleren Allee hatte man die zu spät gekommene Frau Dieulafay niedergestellt, und er verwunderte sich über den Luxus, über den Sarg aus weißer Seide, in dem die junge Frau lag, die ein rosafarbenes, mit Valenciennespitzen besetztes Hauskleid trug. Der Gatte im Gehrock und die Schwester in schwarzer Toilette von einfacher, wunderbarer Eleganz standen neben ihr, während der Abbé Judaine bei der Kranken auf den Knien lag und gerade ein inbrünstiges Gebet beendete.
Als sich der Priester wieder erhob, räumte ihm Herr Vigneron an seiner Seite einen kleinen Platz auf der Bank ein. Dann
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