Lourdes
Hauch, der aus dieser Menge aufstieg und ihn in Bestürzung versetzte. Trotz seiner Liebe zu den Niedrigen verursachten ihm die häßlichen, gemeinen, mit Schweiß bedeckten Gesichter, der schlechte Atem und die alten, nach Armut riechenden Kleider ein Unbehagen, das sich bis zur Übelkeit steigerte.
»Bitte, meine Damen, bitte, meine Herren! Es handelt sich um eine Kranke. Machen Sie ein wenig Platz, ich bitte Sie!«
Der von der Flut überschwemmte, in diesem weiten Meer hin und her geworfene Wagen setzte seinen Weg ruckweise fort und brauchte viele Minuten, um einige Meter vorwärts zu kommen. Einen Augenblick konnte man glauben, er sei verschlungen worden, denn man sah nichts mehr von ihm. Dann erschien er wieder und langte auf der Höhe der Weiher an. Eine zärtliche Teilnahme zeigte sich endlich für das junge, kranke, vom Leiden so verwüstete und doch noch so schöne Mädchen. Wenn die Leute dem unausgesetzten Drängen des Priesters hatten nachgeben müssen und sich nach ihm umwandten, dann wagten sie nicht, sich zu erzürnen. Sie wurden weich gestimmt durch den Anblick dieses mageren Schmerzensgesichts, das im Heiligenschein seiner blonden Haare leuchtete. Worte des Mitleids und der Bewunderung gingen von Mund zu Mund. Ach, das arme Kind! War es nicht grausam, in diesem Alter so krank zu sein? Möchte ihr doch die Heilige Jungfrau Huld erweisen! Andere wurden durch die Ekstase, in der sie das Mädchen sahen, und durch die hellen, dem Jenseits ihrer Hoffnung geöffneten Augen in Verwunderung und Erstaunen versetzt. Sie sah den Himmel, sie würde sicher geheilt werden. Der kleine Wagen ließ in der Flut, die er mit so viel Mühe zerteilte, gleichsam ein Kielwasser zurück, das aus Verwunderung und geschwisterlicher Barmherzigkeit bestand.
Pierre verzweifelte aber und war mit seinen Kräften zu Ende, als ihm Sänftenträger zu Hilfe kamen. Diese bemühten sich, für die Prozession einen Weg zu bahnen, und Berthaud hatte ihnen den Auftrag gegeben, den Weg mit Seilen zu schützen, die sie in Abständen von je zwei Meter festhielten. Von da an zog Pierre Marie ziemlich unbehindert weiter und trat endlich mit ihr in den für die Kranken vorbehaltenen Raum links von der Grotte, in dem sie stillstanden. Man konnte sich dort nicht bewegen, der Menschenwall schien von Minute zu Minute zu wachsen. Nach dem Durchzug, den er soeben mit außerordentlicher Mühe und mit zerschlagenen Gliedern bewerkstelligt hatte, erfaßte ihn angesichts des ungeheuren Zusammenströmens des Volks das Gefühl, als befände er sich mitten im Ozean, dessen Wellen er ohne Ruhe und Rast um sich herum hörte.
Seit ihrem Aufbruch vom Hospital hatte Marie die Lippen nicht geöffnet. Er begriff, daß sie mit ihm zu sprechen wünschte, und beugte sich zu ihr nieder.
»Ist mein Vater da?« fragte sie. »Ist er von seinem Ausflug nicht zurückgekommen?«
Er mußte ihr antworten, daß Herr von Guersaint noch nicht heimgekehrt sei, sondern sich ohne Zweifel gegen seinen Willen verspätet habe. Darauf begnügte sie sich, lächelnd hinzuzufügen:
»Ach, der gute Vater! Wie wird er erfreut sein, wenn er mich geheilt wiederfindet!«
Pierre betrachtete sie mit gerührter Bewunderung. Er erinnerte sich nicht, sie in der langsamen Zerstörung der Krankheit je so anbetungswürdig gesehen zu haben. Das kleiner und feiner gewordene Antlitz hatte einen träumerischen Ausdruck angenommen, die Augen waren in dem vertrauten Gedanken an ihr Leiden verloren, die Züge waren unbeweglich, als sei sie, von einer fixen Idee befangen, eingeschlafen und warte nun darauf, daß die Erschütterung des erhofften Glücks sie erwecke. Der Geist hatte sich gleichsam von ihr losgelöst, um in sie zurückzukehren, sobald Gott es wollte. Und dieses anmutige Kind, dieses kleine Mädchen von fünfundzwanzig Jahren war endlich so weit, den Besuch des Engels zu empfangen und die wunderbare Erschütterung zu erfahren, die es aus seiner Lähmung reißen und wieder auf die Beine stellen sollte. Die am Morgen eingetretene Ekstase Mariens dauerte noch an, sie hielt die Hände gefaltet, ein Aufschwung ihres ganzen Wesens hatte sie der Erde entrückt, seitdem sie das Bild der Heiligen Jungfrau gewahrte. Sie betete und brachte sich der Gottheit zum Opfer dar.
Für Pierre war das eine Stunde großer Beunruhigung. Er fühlte, daß sich das Drama seines Priesterlebens bald abspielen werde, daß sein Glaube sich nie wieder einstellen würde, wenn er ihn nicht in dieser Krise wiederfände. Er
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