Lourdes
der außerordentliche Andrang der Menge erschreckte ihn. Wenn es ihm nicht gelang, sich loszumachen, fürchtete er, sich zu verspäten. Zum Glück fand er eine Hilfe.
»Herr Kurat«, erklärte ihm Berthaud, »versuchen Sie ja nicht, nach der Rosenkranzkirche zu gehen, Sie würden auf dem Wege steckenbleiben. Am besten ist es, den Schlangenweg hinaufzugehen. Warten Sie! Folgen Sie mir, ich gehe vor Ihnen her!«
Er machte von seinen Ellenbogen Gebrauch, drängte den dichten Menschenstrom auseinander und öffnete dem Priester einen Weg. Dieser erschöpfte sich in Danksagungen.
»Sie sind zu liebenswürdig. Es ist meine Schuld. Ich habe mich vergessen. Aber guter Gott! Wie werden wir's anfangen, um eben jetzt mit der Prozession durchzukommen?«
Diese Prozession beunruhigte auch Berthaud. Schon an gewöhnlichen Tagen brachte sie bei ihrem Vorüberziehen eine Krise wahnwitziger Schwärmerei zum Ausbruch, die ihn nötigte, besondere Maßregeln zu ergreifen. Was konnte sich nun nicht alles ereignen, wenn sie durch diese zusammengedrängte Masse von dreißigtausend Personen hindurchzog, die von einem solchen Glaubensfieber geschüttelt waren, daß sie jetzt schon daran waren, in göttliche Raserei zu verfallen? Er benutzte denn auch sehr verständig die Gelegenheit, um äußerste Vorsicht zu empfehlen.
»Ach, Herr Kurat«, begann er, »ich bitte Sie, sagen Sie doch gütigst den Herren vom Klerus, keinen Raum zwischen sich zu lassen, sondern dicht hintereinander zu marschieren. Und namentlich soll man die Fahnen festhalten, damit sie nicht umgeschlagen werden. Was Sie betrifft, Herr Kurat, so wachen Sie darüber, daß die Männer, die den Altarhimmel tragen, kräftig sind, und binden Sie das weiße leinene Tuch fest um den Knoten der Monstranz. Scheuen Sie sich nicht, sie mit beiden Händen und mit dem Aufgebot Ihrer ganzen Kraft zu tragen.«
Ein wenig erschreckt durch diese Anordnungen, dankte der Priester fortwährend.
»Gewiß, gewiß! Sie sind sehr liebenswürdig. Wie erkenntlich bin ich Ihnen, daß Sie mir aus diesem Gedränge herausgeholfen haben.«
Als er sich endlich losgemacht hatte, beeilte er sich, die Basilika auf dem engen Weg zu erreichen, der in großen Windungen quer über den Hügel hinaufführt, während sein Gefährte im Gewühl verschwand, um seinen Wächterposten wieder einzunehmen.
Im gleichen Augenblick stieß Pierre, der Marie in ihrem kleinen Wagen herbeiführte, auf der andern Seite, auf dem Platz der Rosenkranzkirche, an die undurchdringliche Mauer der Volksmenge. Das Mädchen im Gasthof hatte ihn um drei Uhr geweckt, damit er das junge Mädchen im Hospital abhole. Es eilte nicht, und sie hatten hinlänglich Zeit, noch vor der Prozession zur Grotte zu kommen. Aber diese unermeßliche Menge, die wie eine Mauer Widerstand leistete und die er nirgends zu durchbrechen vermochte, begann ihn einigermaßen zu beunruhigen. Wenn die Leute nicht ein wenig gefällig waren, würde er mit dem von ihm gezogenen kleinen Wagen niemals durchkommen können.
»Bitte schön, meine Damen, ein wenig Platz zu machen! Sie sehen, ich führe eine Kranke!«
Aber die Damen rührten sich nicht von der Stelle, sie waren hypnotisiert durch den Anblick der in der Ferne lodernden Grotte und hoben sich auf den Fußspitzen in die Höhe, um nichts von dem Schauspiel zu verlieren. Übrigens war das Geschrei der Litanei in diesem Augenblick so stark, daß man die flehenden Worte des jungen Priesters nicht einmal hörte.
»Mein Herr! Treten Sie auf die Seite, und lassen Sie mich durch! Ein wenig Platz für eine Kranke! Bitte, hören Sie mich doch!«
Die Männer willigten aber ebensowenig darein, sich vom Platz zu rühren, wie die Frauen. Auch sie waren außer sich und im Zustand der Verzückung, der sie blind und taub machte.
Marie lächelte übrigens mit heiterer Miene, als ob sie nichts von dem Hindernis wüßte, sondern die Gewißheit hätte, daß nichts in der Welt sie hindern könnte, ihrer Genesung entgegenzugehen. Die Lage wurde jedoch schwieriger, als Pierre eine Lücke gefunden und sich in die bewegliche Flut gewagt hatte. Von allen Seiten schlug die wogende See gegen den kleinen, zerbrechlichen Wagen und drohte, ihn auf Augenblicke zu überschwemmen. Noch nie hatte Pierre eine solche Empfindung der Angst vor dem niederen Volke gefühlt. Es hatte nichts Drohendes an sich, sondern war von einer Einfalt und Trägheit, die an eine Herde erinnerte. Aber er empfand einen beunruhigenden Schauer, einen eigentümlichen
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