Lourdes
Reichtümern auf wie ein Traum der Verheißung und der Gerechtigkeit, ja wie das Glück selbst und der Schatz des künftigen Lebens, in das die Armen nach ihrem langen irdischen Mühsal gewiß eines Tages eingehen würden.
Pierre fand an nichts Freude. Er betrachtete diese glänzenden Dinge ohne Trost und ohne Hoffnung. Sein schreckliches Unbehagen wuchs, und es wurde finster in ihm, so finster wie bei einem Sturm, bei dem Gedanken und Empfindungen tosen und heulen. Von dem Augenblick an, da Marie sich von ihrem Wagen erhoben und gerufen hatte, daß sie geheilt sei, und seitdem sie so kräftig, so lebhaft, wie vom Tode auferstanden umherging, fühlte er eine unermeßliche Traurigkeit sein Inneres erfüllen. Und doch liebte er sie mit leidenschaftlicher, brüderlicher Zuneigung, und als er sie nicht mehr leiden sah, hatte er ein grenzenloses Glück empfunden. Warum verursachte ihm also ihre Glückseligkeit ein solch peinliches Angstgefühl? Er konnte sie jetzt, da sie unter Tränen in ihrer wiedergewonnenen, größeren Schönheit strahlend, dort kniete, nicht mehr betrachten, ohne daß sein armes Herz wie aus einer tödlichen Wunde blutete. Dessenungeachtet wollte er dableiben. Er wandte die Augen weg und suchte sich für den Pater Massias zu interessieren, der noch immer auf den Steinfliesen lag und von Schluchzen erschüttert wurde. Er beneidete ihn um die verzehrende Illusion der göttlichen Anbetung, in der er sich bis zur Vernichtung demütigte. Einen Augenblick schien sogar eine Fahne seine Teilnahme zu erregen, er befragte Berthaud darüber und erbat Erklärungen.
»Welche? Die Spitzenfahne dort unten?«
»Ja, die auf der linken Seite.«
»Das ist eine von Le Puy gestiftete Fahne. Die Wappen darauf sind die mit einem Rosenkranz verbundenen Wappen von Le Puy und Lourdes. Der Spitzenstoff ist so fein, daß man die ganze Fahne in der hohlen Hand halten könnte.«
Jetzt trat der Abbé Judaine vor, und die Zeremonie begann. Die Orgel dröhnte aufs neue, und es wurde ein Lied gesungen, während das heilige Sakrament unter den goldenen und silbernen Herzen als königliches Gestirn auf dem Altar glänzte. Pierre hatte nicht die Kraft, länger zu bleiben. Da Marie Frau von Jonquière und Raymonde als Begleiterinnen bei sich hatte, konnte er weggehen und in einem schattigen Winkel verschwinden, in dem er endlich weinen könnte. Er entschuldigte sich kurz und schützte sein Stelldichein mit Doktor Chassaigne vor. Dann hatte er aber noch eine Besorgnis. Er wußte nämlich nicht, wie er aus der Kirche hinauskommen sollte, so versperrte die Flut der Gläubigen die Pforte. Da kam ihm eine Eingebung: er ging durch die Sakristei und stieg auf der engen inneren Treppe in die Krypta hinab.
Dort umfing ihn plötzlich tiefe Stille. Auf die freudigen Stimmen und den Wunderglanz von oben folgte der Schatten einer Totengruft. Die in den Felsen eingehauene Krypta bestand aus zwei schmalen, durch die Grundmauer, die das Kirchenschiff trug, voneinander geschiedenen Gängen, die unter der Chorwölbung zu einer unterirdischen, Tag und Nacht von kleinen Lampen erhellten Kapelle führten. Ein dunkler Wald von Pfeilern kreuzte sich dort, und in ihrem Halbdunkel herrschte mystischer Schrecken. Die Mauern waren nackt wie der Stein des Grabes, in dessen Tiefe jeder Mensch seinen letzten Schlaf tun muß. In den Gängen sah man an den Wänden, die von oben bis unten marmorne Votivtafeln bedeckten, nur eine doppelte Reihe von Beichtstühlen, denn in diesem totenstillen Erdenwinkel legte man die Beichte ab. Es gab Priester, die in allen Zungen sprachen, um den aus allen Enden der Welt hierhergekommenen Sündern ihre Fehler zu vergeben.
Während sich oben die Menge drängte, war die Krypta zu dieser Stunde ganz verlassen, nicht eine einzige Seele belebte diesen Ort des Schauders. In dieser erhabenen Stille, dieser düsteren kühlen Gruft warf sich Pierre auf die Knie nieder. Er tat es nicht, weil er ein Bedürfnis fühlte, zu beten und Gott zu verehren, sondern weil unter der moralischen Folter, die ihn zerriß, sein ganzes Wesen schwach wurde. Ihn quälte der Drang, sein Inneres klar zu erkennen. Ach, daß er sich nicht noch tiefer in das Nichts der Dinge versenken konnte! Daß er doch überlegen, begreifen und sich endlich beruhigen könnte!
Er durchlebte schreckliche Qualen. Er versuchte, sich jede einzelne Minute wieder zu vergegenwärtigen, seitdem Marie sich von ihrem Schmerzenslager erhoben und den Ruf der Auferstehung ausgestoßen
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