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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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anempfehle, sowie mich und die Meinigen.« – »Der drei Jahre alte P. D. ist der Liebe der Seinigen erhalten geblieben.« Gattinnen, erleichterte Kranke und dem Glück wiedergegebene Seelen rufen: »Schütze meinen Gatten; gib, daß er sich wohl befinde!« – »Ich war an beiden Beinen krank und bin nun geheilt!« – »Wir kamen und hoffen wieder.« – »Ich habe gebetet und geweint, und sie hat mich erhört.« Und noch andere Sprüche waren angebracht, Sprüche voll heimlicher Glut, die lange Romane vermuten ließen: »Du hast uns vereinigt, schütze uns!« – »Dank sei Marien für die größte der Wohltaten!« Dieselben Sprüche wiederholten sich immer wieder, es waren immer die nämlichen Worte leidenschaftlicher Inbrunst: Worte der Dankbarkeit, der Anerkennung und Huldigung, Dankgebete und Danksagungen. Ach, diese Hunderte und Tausende für ewig in Marmor eingegrabenen Worte! Wie riefen sie doch aus der Tiefe der Krypta der Heiligen Jungfrau die immerwährende Verehrung der armseligen Menschen entgegen, denen sie zu Hilfe gekommen war!
    Pierre wurde nicht müde zu lesen. Seinen Mund erfüllte Bitterkeit, und er wurde von wachsender Trostlosigkeit befallen. Nur er allein hatte also keine Hilfe zu erwarten? Wo so viele leidende Wesen erhört wurden, hatte er allein sich nicht verständlich zu machen gewußt? Jetzt dachte er an die außerordentliche Menge von Gebeten, die in Lourdes von einem Ende des Jahres bis zum andern gesprochen werden mußten. Er versuchte, deren Zahl abzuschätzen: er dachte an die vor der Grotte verlebten Tage, an die in der Rosenkranzkirche zugebrachten Nächte, an die Zeremonien in der Basilika und an die im Sonnenschein und bei Sternenlicht abgehaltenen Prozessionen. Die ununterbrochenen, zu allen Sekunden aufsteigenden Gebete waren jedoch unberechenbar. Die Gläubigen wollten durch deren ungeheure Masse die Ohren Gottes ermüden und ihm so Gnade und Vergebung entlocken. Die Priester sagten, man müsse Gott die wegen der Sünden Frankreichs geforderte Sühne darbringen, und wenn die Summe dieser Sühngebete hinreiche, würde die Züchtigung Frankreichs aufhören. Wie hart ist es, an die Notwendigkeit dieser Züchtigung zu glauben! Welche grausame Einbildung des schwärzesten Pessimismus! Wie übel beschaffen mußte das Leben sein, daß ein solches Flehen, ein solcher Ruf körperlichen und moralischen Elends zum Himmel aufsteigen konnte!
    Aber mitten in seiner unendlichen Traurigkeit fühlte Pierre, wie ihn ein tiefes Mitleid überkam. Ach, diese armselige Menschheit! Er war fassungslos, wenn er daran dachte, wie sie in ihrer Schwäche und Verlassenheit sich ihrer Vernunft begab, um das Glück, das noch möglich war, in einen berauschenden Traum zu setzen. Aufs neue füllten sich seine Augen mit Tränen, er weinte über sich selbst, über die andern und über alle armen gequälten Wesen, die das Bedürfnis fühlten, ihr Leid zu betäuben und einzuschläfern, um der Wirklichkeit dieser Welt zu entfliehen. Es schien ihm, als höre er noch die vor der Grotte kniende Menge ihr glühendes, flehentliches Gebet zum Himmel hinaufschreien, die Menge von zwanzig- bis dreißigtausend Seelen, von der ein inbrünstiges Begehren aufstieg, das man im Sonnenschein wie Weihrauchwolken dampfen sah. Unter dieser Krypta, in der Rosenkranzkirche, loderte wiederum eine andere Glaubensschwärmerei. Dort verbrachte man ganze Nächte im Paradies der Verzückung, unter den stummen Wonnen der Kommunion und unter wortlosen heißen Gebeten, in denen das ganze Geschöpf sich verzehrt, verbrennt und verflüchtigt. Und wie wenn das Geschrei vor der Grotte und die immerwährende Anbetung in der Rosenkranzkirche nicht genügten, fingen die inbrünstigen Bittrufe um ihn herum, an den Wänden der Krypta, sich wieder zu erheben an. Hier aber verewigten sie sich im Marmor und verkündeten das menschliche Elend ohne Unterlaß bis in die fernsten Zeiten. Der Marmor und die Wände beteten, von dem allgemeinen Schauder des Mitleids befallen, der sich sogar auf die Steine erstreckte. Und höher, immer höher stieg das Gebet. Von der über ihm summenden Basilika, die in diesem Augenblick von einem rasenden Volk angefüllt war, dessen ungeheuern Atemhauch er durch die Steinfliesen des Kirchenschiffes hindurch zu vernehmen und in einen hoffnungsreichen Gesang ausbrechen zu hören glaubte, schwang es sich empor. Pierre wurde schließlich selbst mit hingerissen, als ob er sich inmitten der unermeßlichen, rauschenden Gebetsflut

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