Lourdes
ist es! Die hilfreiche Güte eines allmächtigen Gottes – reine Täuschung! Die Natur allein hatte gewirkt und das Leben noch einmal den Sieg davongetragen. Er hätte Beweise erbracht und ihr gezeigt, daß einzig und allein das Leben unumschränkt waltet und durch alle irdischen Leiden die Gesundheit wiederherstellt. Dann wären sie miteinander abgereist und weit, recht weit fortgezogen, um glücklich zu werden. Aber da überfiel ihn ein plötzlicher Schrecken. Wie? An diese kleine, reine Seele sollte er rühren, die Gläubigkeit in ihr ertöten und sie mit den Ruinen des Glaubens erfüllen, deren wüste Trümmer ihn selbst zugrunde richteten? Das erschien ihm wie ein schrecklicher Frevel gegen Gott. Er würde sich später darüber entsetzt und geglaubt haben, er hätte sie ermordet, wenn er eines Tags zur Erkenntnis seiner Unfähigkeit gekommen wäre, ihr ein gleiches Glück dafür zu bieten. Vielleicht glaubte sie ihm auch gar nicht. Und überdies, würde sie je einen abtrünnigen Priester heiraten, nachdem sie die unvergeßliche Wonne bewahrte, in der Verzückung geheilt worden zu sein? All das erschien ihm wahnwitzig, widernatürlich und entehrend. Seine Empörung beruhigte sich bereits, er fühlte nur noch eine unendliche Mattigkeit und empfand in seinem armen, zermalmten und zerrissenen Herzen den brennenden Schmerz einer unheilbaren Wunde.
In seiner Verlassenheit und in der Öde, die ihn umgab, marterte ihn noch ein letzter Kampf. Was sollte er tun? Er hätte fliehen mögen, um Marie nicht mehr wiederzusehen, denn sein Leiden hatte ihn feige gemacht. Er begriff gut, daß er jetzt lügen mußte, weil sie ihn auch für gerettet und bekehrt hielt. Sie glaubte, er wäre in der Seele genesen, wie sie am Leibe geheilt war. Während sie ihren Wagen über die Rampen zog, hatte sie ihm ihre Freude darüber mitgeteilt. O wie herrlich, daß ihnen das große Glück gleichzeitig, miteinander widerfahren war! Er hatte schon gelogen und würde gezwungen sein, immerfort zu lügen, um ihr die schöne, unschuldige Illusion nicht zu rauben. Er brachte das letzte, heftige Klopfen seiner Adern zur Ruhe und schwor, die erhabene Barmherzigkeit zu üben, sich zu verstellen, als hätte er den Frieden und die Wonne des Heils gefunden. Er wünschte sie vollkommen glücklich, ohne Betrübnis, ohne Zweifel, in der vollen Heiterkeit des Glaubens und überzeugt davon, daß die Heilige Jungfrau in ihre mystische Vereinigung eingewilligt habe. Was lag ihm an seiner Qual? Vielleicht würde seine Wunde sich später wieder schließen. Und würde ihm in der trostlosen Einsamkeit, zu der ihn seine Vernunft verurteilte, nicht ihre Freude ein wenig Erleichterung bringen, jene Freude, deren ganzen trügerischen Trost er ihr lassen wollte?
Minuten verrannen, und noch immer blieb Pierre wie vernichtet auf den Steinfliesen liegen, um sein Fieber zu besänftigen. In der Erschlaffung des ganzen Wesens, das auf schwere Krisen folgt, konnte er keinen Gedanken mehr fassen: er fühlte nicht einmal mehr, daß er existierte. Da glaubte er, das Geräusch von Schritten zu hören, und hob sich mühsam in die Höhe. Er stellte sich, als läse er die Votivtafeln und die auf den Marmorplatten eingegrabenen Inschriften. Er hatte sich aber getäuscht: es war niemand da. Nichtsdestoweniger setzte er seinen Rundgang fort, zuerst ganz mechanisch und weil er eine Zerstreuung suchte, dann aber, weil er nach und nach von einer neuen Gemütsbewegung überwältigt wurde.
Er sah Dinge, die jeder Vorstellung spotteten. Glaube, Anbetung und Dankbarkeit waren auf diesen Marmorplatten mit goldgravierten Buchstaben in Hunderten und Tausenden von Exemplaren zum Ausdruck gebracht. Darunter fanden sich Inschriften, die in ihrer Einfalt zum Lachen reizten. Ein Oberst hatte seinen Fuß einmeißeln und dazu die Worte setzen lassen: »Du hast ihn mir bewahrt, laß ihn dir dienen!« Weiterhin las man: »Ihr Schutz erstrecke sich auf die Glaswaren!« Oder man ahnte die sonderbaren Bitten aus der freimütigen Unschuld der Danksagungen: »Der unbefleckten Marie dankt ein Familienvater für die wiedergegebene Gesundheit, den gewonnenen Prozeß und die erlangte Beförderung.« Aber das alles verlor sich im Zusammenklang der zum Himmel aufsteigenden Bittrufe. Liebende bitten: »Paul und Anna bitten Unsere Liebe Frau von Lourdes, ihre Vereinigung zu segnen.« Mütter rufen: »Dank Marien! Sie hat mein Kind dreimal geheilt!« – »Dank für die Geburt Marie-Antoinettes, die ich ihr
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