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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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unaufhörlich bewegenden, nur auf Augenblicke stillstehenden, wogenden See erkannte man als kleine bleiche Flecken die in Erwartung der Segenserteilung zur Basilika erhobenen Gesichter. So weit der Blick reichte, vom Platz der Rosenkranzkirche bis zum Gave, über die Alleen und Avenuen hin, über alle Kreuzwege, bis zur fernen alten Stadt hin, überall die kleinen blassen, unzähligen Gesichter, die alle mit weit aufgesperrtem Mund die Augen auf den hochheiligen Fleck Erde richteten, über dem sich bald der Himmel öffnen sollte. Dann tauchte das unermeßliche Rundtheater der Anhöhen, Hügel und Berge empor. Es erhob sich von allen Seiten zu zahllosen Gipfeln, die sich in der blauen Luft verloren. Im Norden, jenseits des Gebirgsbachs und auf den ersten Abhängen sah man unter den Bäumen die zahlreichen Klöster der Karmeliter, Assomptonisten, Dominikanerinnen und der Schwestern von Nevers. Der Brand der untergehenden Sonne vergoldete sie mit rosigem Widerschein. Danach bauten sich bewaldete Bergmassen übereinander auf, erreichten die Höhen des Buala, den der Julospaß überragte, der selbst wieder vom Miramont beherrscht wurde. Im Süden öffneten sich andere tiefe Täler und enge Bergschluchten, zwischen Haufen von riesigen Felsen, deren Fuß schon in bläulichem Schatten badete, während ihre Spitzen noch im lächelnden Licht der Abschied nehmenden Sonne funkelten. Auf dieser Seite zeigten sich auch die purpurgefärbten Hügel von Visens, die einem Korallenvorgebirge glichen, das den schlummernden See des Äthers mit einer durchsichtigen Schranke aus Saphir absperrte. Aber geradeaus nach Osten erweiterte sich noch der Horizont, man blickte dort über die Kreuz- und Querwege der sieben Täler selbst hinweg. Das Schloß, das sie ehedem behütet hatte, stand noch auf dem vom Gave bespülten Felsen mit seinem Wartturm und den hohen Mauern, die ihm das Ansehen einer grimmigen altertümlichen Festung verliehen. Diesseits lag die neue Stadt heiter inmitten ihrer Gärten hingebettet, eine üppige, rasch sich vermehrende Anhäufung von weißen Fassaden, großen Gasthöfen, zum Vermieten bestimmten möblierten Häusern und schönen Kaufläden. Die Schaufenster wurden jetzt erleuchtet und glänzten wie Kohlenglut, während sich hinter dem Schloß das alte Lourdes mit seinem Gewirr farbloser Dächer in staubigem roten Licht zur Schau stellte. Zu dieser späten Stunde erschienen der Kleine und der Große Gers, diese zwei ungeheuren, aus nackten, stellenweise mit glattem Gras bedeckten Felsen bestehenden Bergrücken, hinter denen das Tagesgestirn bei seinem Untergang mit königlicher Pracht verschwand, nur noch wie ein verschwommener veilchenblauer Hintergrund, wie zwei am Rande des Horizonts zugezogene Vorhänge.
    Angesichts dieser Unermeßlichkeit hob der Abbé Judaine das heilige Sakrament mit beiden Händen höher und höher. Langsam wendete er es nach allen Seiten des Horizonts und ließ es am ganzen Himmel ein großes Kreuzzeichen beschreiben. Links begrüßte es die Klöster, die Höhenzüge des Buala, den Julospaß und den Miramont, rechts die großen Einschnitte der tiefliegenden dunklen Täler und die in Purpur getauchten Hügel von Visens, geradeaus die zwei Städte, das vom Gave bespülte Schloß, sowie den schon eingeschlummerten Kleinen und Großen Gers. Es begrüßte die Wälder, die Waldbäche, die Berge, die unbestimmten Umrisse der fernen Bergspitzen und die ganze innerhalb dieses Rundblicks sichtbare Erde. Friede der Erde, Hoffnung und Trost den Menschen!
    Unten war die Menge erbebt, als das große Kreuzzeichen gemacht wurde, das sie alle umfaßte. Ein göttlicher Odem schien zu wehen, der die wogende See der kleinen bleichen Gesichter, die zahlreich waren wie die Wellen eines Ozeans, in Bewegung setzte. Ein Murmeln der Anbetung stieg auf, und jeder Mund öffnete sich, um die Ehre Gottes zu verkünden, als die von der untergehenden Sonne voll getroffene Monstranz abermals wie eine zweite Sonne, wie eine Sonne aus reinem Gold erschien und das Zeichen des Kreuzes wie in Flammenzügen am Rande des Himmels beschrieb.
    Die Fahnen, der Klerus und der Abbé Judaine unter dem Baldachin traten bereits in die Basilika zurück, als Marie im Augenblick, da auch sie, ohne die Deichsel ihres Wagens loszulassen, dort eintrat, von zwei Damen angehalten wurde, die sie weinend umarmten. Frau von Jonquière und ihre Tochter waren es, die, um der Segenserteilung beizuwohnen, den Weg heraufgemacht und das Wunder erfahren

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