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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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hatte. Warum empfand er, trotzdem er sich brüderlich freute, als er sie wieder stehen sah, sofort ein heftiges Unbehagen, als ob ihn das tödlichste Unglück getroffen hätte? War er denn eifersüchtig auf die göttliche Gnade? Litt er darunter, daß die Jungfrau, indem sie Marie heilte, ihn, dessen Seele so krank war, vergessen hatte? Er erinnerte sich der äußersten Frist, die er sich gegeben, des letzten Stelldicheins, das er dem Glauben festgesetzt hatte für den Augenblick, da das heilige Sakrament vorüberziehen und Marie geheilt würde. Und sie war geheilt worden, und er glaubte noch immer nicht! Und so hatte er auch fernerhin keine Hoffnung mehr, denn er würde nie wieder glauben. In grausamer, blendender Klarheit stand die Gewißheit vor ihm, daß Marie gerettet und daß er verloren war. Das angebliche Wunder, das sie zu einem neuen Leben erweckte, hatte in ihm jeden Glauben an das Übernatürliche vernichtet. Einen Augenblick hatte er geträumt, noch einmal den naiven, beglückenden Glauben eines kleinen Kindes suchen und ihn vielleicht in Lourdes wiederfinden zu können. Das war nicht mehr möglich. Nachdem das Wunder in nichts zusammen fiel und die von Beauclair vorausgesagte Heilung sich nachher von Punkt zu Punkt erfüllt hatte, konnte sein Glaube nicht wieder aufblühen. Eifersüchtig war er nicht, o nein! Aber zerrüttet und todtraurig, daß er so ganz allein in der starren Öde seiner Vernunft ausharren sollte, um sich vergebens zurückzusehnen nach der Illusion, der Lüge und dem Glauben der Einfältigen, dessen sein Herz nicht mehr fähig war.
    Ein Strom von Bitterkeit durchflutete Pierre, und Tränen stürzten aus seinen Augen. Von tiefster Seelenangst überwältigt, war er auf das Pflaster niedergeglitten. Es stieg in ihm die Erinnerung auf an die köstliche Zeit, die mit dem Tage ihren Anfang nahm, da Marie die Marter seines Zweifels ahnte. Sie hatte leidenschaftlich an seiner Bekehrung gearbeitet. Sie ergriff im Dunkeln seine Hand und gestand ihm verwirrt, daß sie für ihn beten, ja, aus ganzer Seele beten würde. Sie vergaß sich und bat die Heilige Jungfrau inständig, lieber ihren Freund als sie zu retten, wenn sie von ihrem göttlichen Sohn nur eine einzige Gnade erhalten könnte. Dann kamen ihm die herrlichen Stunden ins Gedächtnis, die sie in der finstern Nacht während des Vorbeizuges der Fackelprozession unter den Bäumen zugebracht hatten. Auch da hatte wieder einer für den anderen gebetet. Und sie hatten sich mit so glühendem Wunsch nach ihrem gegenseitigen Glück ineinander verloren, daß sie einen Augenblick den tiefen Grund jener Liebe berührten, die sich ganz hingibt und sich aufopfert. Und nun endete ihr langjähriges, tränenreiches, zärtliches Verhältnis, die reine Idylle ihrer Leiden, mit einer brutalen Trennung: sie war gerettet und strahlte, von den Gesängen der triumphierenden Basilika umwogt, während er zugrunde gerichtet und vor Elend schluchzend in eisiger Grabeseinsamkeit auf dem Boden der finsteren Krypta lag. Es schien ihm, als hätte er sie ein zweitesmal verloren – verloren für immer!
    Plötzlich fühlte Pierre, wie ihm dieser Gedanke einen Stich mitten ins Herz versetzte. Er begriff endlich sein Leiden; Und es kam wie eine jähe Klarheit über ihn, die die schreckliche Krise, gegen die er sich wehrte, scharf beleuchtete. Zum erstenmal hatte er Marie verloren am Tage, da er Priester geworden war. Damals hatte er sich gesagt, er könne leicht darauf verzichten, ein Mann zu sein, da auch sie niemals Weib sein könnte. Jetzt war sie aber geheilt, jetzt wurde sie wieder zur Frau! Er dagegen war tot, er konnte kein Mann mehr werden! Nie würde es ihm gelingen, den Grabstein von sich zu wälzen, der ihn erdrückte und der sein Fleisch ertötete. Sie entwich und ließ ihn zurück in der kalten Erde. Vor ihr tat sich wieder die weite Welt auf, das lächelnde Glück, die auf sonnenhellen Wegen ihr entgegen lachende Liebe, ein Gatte, ohne Zweifel auch Kinder, während er wie bis über die Schultern eingescharrt war und nur sein Gehirn freibehielt, um noch mehr zu leiden. Als sie keinem anderen angehörte, war sie noch sein gewesen, und nur darum lag er seit einer Stunde in so entsetzlicher Qual auf den Knien, weil sie ihm jetzt endgültig entrissen worden war, weil sie diesmal für immer von ihm getrennt wurde.
    Eine rasende Wut packte ihn. Er fühlte sich versucht, wieder hinaufzugehen und Marie die Wahrheit ins Gesicht zu schreien. Das Wunder – eine Lüge

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