Lourdes
Turmspitze den Himmel, während Milliarden von Gebeten, die ihre Mauern erschütterten, aus ihr sich emporschwangen. Hier dagegen zerfiel eine Kirche in Staub, die unterging, noch ehe sie ganz erstanden war, eine Kirche, die durch bischöfliche Verordnung mit dem Verbot belegt worden war und die, allen Wänden preisgegeben, offenstand. Jedes Gewitter riß ein wenig von den Steinen mit fort, große Fliegen summten in den Brennesseln, die den Boden des Schiffs überwucherten, und in ihr sah man keine anderen Andächtigen als die Frauen aus der Nachbarschaft, die herkamen, um ihre auf dem Gras ausgebreitete armselige Wäsche umzuwenden. Mitten in dem düsteren Schweigen schien es, als ob eine Stimme dumpf schluchzte, vielleicht war es die Stimme der Marmorsäulen, die unter ihrem Brettermantel ihre unnütze Pracht beweinten. Bisweilen flogen Vögel durch die öde Chorwölbung und stießen Schreie aus. Ganze Banden von ungeheuren Ratten, die unter den Trümmern der abgeschlagenen Baugerüste eine Zuflucht gefunden hatten, bissen sich herum und hüpften in einem Schreckensgalopp aus ihren Löchern hervor. Man konnte sich nichts Beklemmenderes, nichts Niederdrückenderes vorstellen als diese mit Absicht gewollte Ruine gegenüber ihrer triumphierenden Nebenbuhlerin, der von Gold strahlenden Basilika.
Wiederum sagte Doktor Chassaigne einfach:
»Kommen Sie!«
Sie traten vor die Kirche hinaus, gingen längs des linken Seitenschiffes hin und kamen vor eine aus etlichen zusammengenagelten Brettern plump hergestellte Tür. Als sie eine hölzerne, halb zerbrochene Treppe, deren Stufen unter ihren Tritten schwankten, hinabgestiegen waren, befanden sie sich in der Krypta.
Es war ein niedriger Saal mit platten Gewölben, genau in der Anordnung des Chors. Die im rohen Zustand gelassenen kurzen, dicken Säulen harrten ebenfalls der Bildhauerarbeiten. Materialien lagen da und dort umher, Holzstücke verfaulten auf der Erde, der ganze weite Saal hatte nur einen weißen Gipsbewurf, die vernachlässigten, abgenutzten Maurerarbeiten wurden nie zu Ende geführt Drei im Hintergrund angebrachte Fensteröffnungen, die ehemals mit Glasscheiben versehen waren, von denen aber keine einzige mehr übrig war, beleuchteten die trostlose Nacktheit der Wände mit hellem, kalten Licht.
Und dort in der Mitte schlief der Leichnam des Kuraten Peyramale. Liebevolle Freunde hatten die rührende Idee gehabt, ihn in der Krypta seiner unvollendeten Kirche zu begraben. Das auf einem breiten Tritt ruhende Grabmal bestand ganz aus Marmor. Die Inschriften in goldenen Buchstaben gaben den Gedanken seiner Freunde kund, die sich an der Errichtung des Grabmals beteiligt hatten. Sie waren der Ausdruck der Wahrheit und Genugtuung, der vom Denkmal ausging. Auf der Vorderseite war zu lesen: »Mit frommen Gaben, die aus der ganzen Welt zusammengeflossen sind, wurde diese Gruft dem gesegneten Angedenken des großen Dieners Unserer Lieben Frau von Lourdes errichtet.« Rechts standen folgende Worte aus einem Breve Pius' IX.: »Du hast Dich ganz und gar hingeopfert, um der Muttergottes einen Tempel zu bauen.« Und links das Wort des Evangeliums: »Selig sind, so Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen.« War dies nicht die wahrhaftige Klage, die berechtigte Hoffnung des Besiegten, der so lange gekämpft hatte, nur weil er die ihm von Bernadette überbrachten Befehle der Jungfrau streng auszuführen wünschte? Und unsere Liebe Frau von Lourdes war da. Eine kleine, unscheinbare Statue war oberhalb der Grabinschrift an der Mauer angebracht, die nur einige an Nägeln aufgehängte Perlenkränze schmückten. Vor dem Grabmal standen wie vor der Grotte fünf oder sechs Bänke für die Gläubigen, die sich setzen wollten.
Mit einer neuen Gebärde der Entrüstung und des Erbarmens zeigte aber jetzt Doktor Chassaigne dem jungen Priester einen ungeheuren feuchten Fleck, der die hintere Wand grün färbte. Pierre erinnerte sich des kleinen Sees, den er oben auf dem vom Chor losgetrennten Zement bemerkt hatte. Er bestand aus einer beträchtlichen Wassermasse, die das Gewitter der vorigen Nacht zurückgelassen hatte. Offenbar sickerte das Wasser durch. Wenn zeitweise starker Regen fiel, so floß eine wirkliche Quelle herab, die die Krypta überschwemmte. Allen beiden tat das Herz weh, als sie bemerkten, wie das Wasser in dünnen Fäden die Wölbung entlang rann und in großen, regelmäßigen Tropfen auf das Grab niederfiel.
Pierre stand, von einer Art heiligen Entsetzens erfaßt,
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