Lourdes
unbeweglich da. Der Tote, der hier unter diesen herabfallenden Tropfen lag, den Stürmen ausgesetzt, die im Winter durch die zerbrochenen Fensterscheiben eindringen mußten, erschien ihm beklagenswert und tragisch. Er nahm eine wilde Größe an, in seinem reichen Marmorgrab mitten unter dem Schutt und den zerfallenden Ruinen seiner Kirche. Er war der einsame Hüter dieser Kirche. Der schlafende und träumende Tote bewachte ihre leeren, allen Nachtvögeln offen stehenden Räume. Er lag hier als stummer, hartnäckiger, ewiger Protest und wartete. Im Sarg liegend, mit der Ewigkeit vor sich, um sich in Geduld zu fassen, wartete er unverdrossen auf die Arbeiter, die vielleicht an einem schönen Aprilmorgen zurückkommen würden. Wenn es auch zehn Jahre dauern würde, er war da. Und wenn es ein Jahrhundert dauerte, war er auch noch da. Er wartete darauf, daß die oben im Grase des Hauptschiffs verfaulten Baugerüste, durch ein Wunder gleichsam vom Tode auferweckt, wieder an den Mauern aufgestellt würden. Er wartete darauf, daß die mit Moos bedeckte Lokomobile plötzlich wieder geheizt sein und ihr Leben und ihre Kraft wiedererlangen würde, um die Dachbalken in die Höhe zu ziehen. Sein geliebtes Werk, der Riesenbau, stürzte ihm auf das Haupt, er aber bewachte mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen den Schutt und wartete.
Mit halblauter Stimme erzählte der Doktor die grausame Geschichte, wie man auch das Grab des Kuraten Peyramale verfolgte, nachdem man ihn und sein Werk verfolgt hatte. Ursprünglich war eine Büste des Kuraten dagewesen, und fromme Hände unterhielten vor dieser Büste die kleine Flamme einer Lampe. Als aber einmal eine Frau mit dem Gesicht auf die Erde fiel und sagte, sie habe die Seele des Verstorbenen erblickt, da gerieten die Patres von der Grotte in Aufregung. Sollten sich etwa Wunder ereignen? Schon brachten einige Kranke ganze Tage auf den Bänken vor dem Grabe zu. Andere knieten dort, küßten den Marmor und flehten um ihre Heilung. Das war ein Schrecken! Wenn diese Leute gesund würden und die Grotte einen Konkurrenten bekäme in diesem Märtyrer, der mitten unter alten, von den Mauern zurückgelassenen Werkzeugen einsam dalag! Da veröffentlichte der von der Sache verständigte, durch die Patres bearbeitete Bischof von Tarbes die Verordnung, die die Kirche mit dem Verbot belegte, jeden Gottesdienst am Grabe des vormaligen Kuraten von Lourdes sowie jede Wallfahrt und Prozession verbot. Wie es bei Bernadette geschehen war, wurde nun auch das Andenken an den Abbé Peyramale geächtet. So erbittert die Patres von der Grotte den lebenden Mann verfolgt hatten, ebenso erbittert verfolgten sie das Gedächtnis des großen Toten. Sie verfolgten ihn bis in sein Grab. Sie allein verhinderten es und verhindern es noch heute, daß die Arbeiten an der Kirche wieder aufgenommen werden, sie legen diesem Vorhaben fortwährend Hindernisse in den Weg, weil sie sich weigern, ihre reiche Ernte zu teilen. Und es scheint, sie erwarten, daß die eindringenden winterlichen Regengüsse das Werk der Zerstörung vollenden, daß die Gewölbe und Mauern und der ganze riesige Bau auf das Marmorgrab, auf den Leichnam des Besiegten herabstürzen, damit er darunter zermalmt und verschüttet werde!
»Ach«, flüsterte der Doktor, »und ich habe ihn in seiner Tapferkeit und in seiner Begeisterung für alle edlen Werke selbst gekannt! Und jetzt, Sie sehen es, jetzt regnet es auf sein Grab!«
Mühsam ließ er sich auf die Knie nieder und beruhigte sich in einem langen Gebet.
Pierre, der nicht beten konnte, blieb stehen. Ihn hatte in seiner Menschenliebe eine solche Bewegung erfaßt, daß sein Herz überströmte. Er hörte, wie die schweren, vom Gewölbe herabfallenden Tropfen nacheinander in langsamem Rhythmus auf dem Grabe zerplatzten, und sie schienen in dem tiefen Schweigen die Sekunden der Ewigkeit zu zählen. Er gedachte des ewigen Elends dieser Welt, auf der immer die Besten zum Leiden auserwählt sind. Die zwei großen Arbeiter Unserer Lieben Frau von Lourdes, Bernadette und der Abbé Peyramale, lebten wieder auf vor ihm als zwei beklagenswerte Opfer, die man im Leben gepeinigt und nach ihrem Tod verbannt hatte. Gewiß, das hatte den Glauben in ihm ganz getötet, denn Bernadette war, wie er am Ende seiner Untersuchung jetzt gefunden hatte, nur ein menschliches Wesen, eine mit allen Schmerzen beladene Schwester. Und zwei Tränen rollten langsam über seine Wangen.
Fünfter Tag
I
In dieser Nacht konnte Pierre
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